Wer es heute riskiert, ein Jazzorchester zu gründen, muß entweder großzügige Sponsoren kennen, mit dem finanziellen Suizid flirten oder etwas wirklich Außergewöhnliches zu bieten haben. Als Dave Holland vor gut viereinhalb Jahren eine Bigband zusammenstellte, um mit ihr beim Jazzfestival in Montréal aufzutreten, dachte er, daß dies ein einmaliges Experiment sein würde. Jetzt wundert sich der Bassist über den immensen Publikumserfolg, den er mit dem 13köpfigen Ensemble in Europa sowie den USA hat und der ihm neben etlichen anderen Auszeichnungen auch einen hochverdienten Grammy bescherte. Mit “Overtime” legt die Bigband nun ihr zweites Album vor. Es ist zudem die erste Produktion für das Label Dare2 Records, das Holland vor Kurzem nach 30 Jahren enger Verbundenheit mit ECM aus der Taufe gehoben hat.
“Ich hatte Bedenken, ob es funktionieren würde”, gesteht Dave Holland rückblickend. “Aber die Bigband erwies sich schnell als unerwarteter und wunderbarer Erfolg.” Obwohl alles dagegensprach, gelang es ihm mit dem Ensemble zweimal durch Europa zu touren und eine Reihe von Konzerten in den USA (u.a. in der Hollywood Bowl und der Carnegie Hall) zu bestreiten, ohne rote Zahlen zu schreiben – im Gegenteil: mit den Auftritten der Bigband wurde sogar Gewinn erwirtschaftet. Innerhalb von viereinhalb Jahren konnte sich die Dave Holland Big Band als die gefragteste Jazz-Bigband der Gegenwart etablieren. Auf ihrem zweiten Album “Overtime” wird diese Bigband-Erfolgsgeschichte jetzt mit noch mehr Leidenschaft und Drive fortgeschrieben.
“Das neue Album zeigt die enorme Entwicklung der Bigband”, meint Holland, der sieben der acht Stücke selbst komponierte und arrangierte, darunter die vierteilige “Monterey Suite”: “Wir hatten uns vorgenommen, einen Ensembleklang zu kreieren, und diese Einspielung macht deutlich, wie sehr wir als Team zusammengewachsen sind. Ich kann die Musiker gar nicht genug loben. Ohne sie wären all diese Stücke lediglich auf Papier niedergeschriebene Noten geblieben. Sie haben diesen Noten Leben gegeben.”
Tenorsaxophonist Chris Potter, der – wie auch Robin Eubanks, Steve Nelson und Billy Kilson – sowohl in Hollands Quintett als auch in der Bigband spielt, erzählte kürzlich in einem Interview, daß Holland ein ganz besonderer Bandleader ist. “Dave betrachtet die Band als etwas, das man erst aufzieht und dem man dann freien Lauf läßt. Die Musik ist ihm natürlich ein ernstes Anliegen. Er möchte, daß wir alle auf höchstem Niveau spielen. Und er ist sehr neugierig darauf, zu sehen, was wir aus einer Idee machen und in welche Richtung wir sie weiterführen.”
Auf “Overtime” hört man das Ergebnis dieser kollektiven Bemühungen: einen prächtigen, vollen Klang, der brausend und manchmal überschäumend ist; einen Lyrizismus mit warmtönenden Harmonien; geheimnisvolle Romantik; temperamentvollen Spielfluß, mitreißendes Ungestüm, federnd tänzelnde Rhythmen. Es gibt keine “blowing sessions”, bei denen ein Instrumentalist versucht, den anderen auszustechen, sondern einen lebhaften Austausch unter inspirierten Musikern, die einander sehr genau zuhören.
“Als Instrumentalist mag ich es, wenn man mir nur eine grobe Richtung vorgibt und mich einem Stück eine eigene Dynamik geben läßt”, sagt Holland. “Mein Ziel ist, jedem einzelnen Musiker der Bigband die Gelegenheit zu geben, sich eingehend mit seinen eigenen kreativen Möglichkeiten zu befassen. Es ist dabei gar nicht so leicht, die Balance zu halten. Einerseits bestimmt die Band in gewissem Maße meine Kompositionen und Arrangements, andererseits möchte ich meiner Musik aber auch alle erdenkliche Flexibilität und Freiheit belassen.”
Als Vorbilder dienen dem Bandleader Dave Holland vor allem Duke Ellington und Miles Davis. “Ellington schrieb wundervolle Musik, aber es waren die Musiker seines Orchesters, die die Stücke in ganz andere Sphären beförderten”, meint der Bassist. “Und ich mochte Miles' nichtdiktatorische Art, eine Band zu leiten. Er lenkte seine Bands immer sehr subtil und verstand es bestens, sich die Stärken seiner Bandkollegen zunutze zu machen. Sehr gut gefällt mir die Anekdote, die davon erzählt, wie Trane zur Band von Miles stieß. Ständig fragte er Miles, was er denn spielen solle, aber der ignorierte die Frage beharrlich. So ging das zwei Wochen lang und Trane war schon ziemlich verwirrt. Bis er schließlich begriff, daß Miles von ihm erwartete, selbst herauszufinden, was er spielen oder nicht spielen sollte.”
“Overtime” wurde im November 2002 im Anschluß an eine sechswöchige Tournee der Bigband aufgenommen. “Als ich die Band formierte, war es mein Ziel, eine feste Besetzung halten zu können”, sagt Holland. “Ich wollte die Band nicht immer wieder aufs neue mit irgendwelchen gerade verfügbaren Musikern besetzen. Ich wollte mit einer festen Gruppe von Solisten einen Ensembleklang schaffen und jedem eine Chance geben, hervorzutreten und gehört zu werden.”
Die Bigband dieser CD besteht aus den Saxophonisten Antonio Hart (Alt, Soprano und Flöte), Mark Gross (Alt), Chris Potter (Tenor) und Gary Smulyan (Bariton), den Posaunisten Robin Eubanks, Jonathan Arons und Josh Roseman, den Trompetern/Flügelhornisten Taylor Haskins, Alex “Sasha” Sipiagin und Duane Eubanks, Steve Nelson an Vibraphon und Marimba sowie Schlagzeuger Billy Kilson. Bis auf Taylor Haskins, der Earl Gardner ersetzte, und Jonathan Arons, der für Andre Heyward kam, ist die Besetzung der Bigband also mit der des ersten Albums “What Goes Around” (ECM 1777) identisch.
Die ersten vier Stücke des Albums bilden zusammen die “Monterey Suite”, die eine Auftragskomposition für das Monterey Jazz Festival in Kalifornien war und dort anderthalb Wochen nach dem verhängnisvollen 11. September 2001 (besser bekannt als 9/11) uraufgeführt wurde. “Diese Auftragsarbeit war eigentlich meiner erster wirklicher Versuch, etwas eigens für die Bigband zu komponieren und zu arrangieren. Das Orchester hatte ich ja erst ein Jahr vorher gegründet,” erläutert Holland. “Am Tag vor 9/11 war ich von einer Tournee durch Österreich nach New York zurückgekehrt und mußte noch das letzte Stück vollenden. Aber dann war ich durch den Horror der Ereignisse des folgenden Tages komplett blockiert und brachte nichts mehr zu Papier. Am Tag vor den Proben für den Auftritt in Monterey schloß ich mich schließlich für 14 Stunden in meinem Musikzimmer ein und stellte ‘Happy Jammy’ fertig. Ich wollte mit der Suite und dem Auftritt in Monterey ein positives Zeichen setzen und zeigen, daß der menschliche Geist fähig ist, die Widrigkeiten des Lebens zu überwinden.”
Die “Monterey Suite” beginnt mit dem swingenden “Bring It On”, einem Stück, das die Vorfreude und die Erwartungen einfangen und wiedergeben möchte, die Konzertbesucher am Anfang eines typischen Jazzfestivals haben. “Die Eröffnung ist eine Fanfare”, meint Holland. “Es ist eine Einladung dabeizusein, dazuzukommen, Freunde wiederzutreffen, die man lange Zeit nicht gesehen hat – im Grunde ist es eigentlich eine Einladung, eine Gruppe unterschiedlicher Leute um sich zu versammeln.” Daran an schließt sich “Free For All”, das mit einem entspannten Baßsolovortrag beginnt und dann in eine Session übergeht, bei der die Musiker der Band sich austoben und ihrem Freiheitsdrang Ausdruck verleihen können. Das verführerische, etwas misteriöse “A Time Remembered” ist eine bittersüße Ballade. Abgeschlossen wird die Suite mit dem bereits erwähnten Uptempo-Stück “Happy Jammy”, das vom offenen Geist der Jamsessions lebt, die man noch heute auf solchen Jazzfestivals wie in Monterey erleben kann.
Es folgen zwei ältere Stücke in neuem Gewand: Zunächst eine neu arrangierte, leidenschaftliche Version von “Ario”; diese Nummer erschien erstmals 1997 auf dem “Point Of View”-Album (ECM 1663) des Dave Holland Quintet, das damals noch mit Steve Wilson (anstelle von Chris Potter) spielte. Darauf folgt Robin Eubanks' “Mental Images”, in dem sich die Bläser – über einen äußerst stimulierenden Rhythmus – in fantastischer Weise die Bälle zuspielen; “Mental Images” stammt ursprünglich von dem 1994 veröffentlichten gleichnamigen JMT-Album des Posaunisten. Das fulminante Finale bestreitet die Dave Holland Big Band mit dem fetzigen “Last-Minute Man”, einem Song, dessen funky Grooves eine gewisse Inspiration durch die Musik von HipHoppern wie Missy Elliott, Busta Rhymes und Snoop Dogg verraten. “Ich höre mir an, was sie machen, und bin der Ansicht, daß sie ganz schön kreativ sind”, gesteht Dave Holland etwas überraschend. “Sie mögen zwar keinen direkten Einfluß auf meine Musik ausüben, aber im Groove dieses Stücks steckt etwas, das mich an sie erinnert.”