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ECM-Jahresrückblick 2025, Teil 1: Keith Jarrett and All That Other Jazz

In unserem zweiteiligen Jahresrückblick präsentieren wir in dieser und der nächsten Woche in chronologischer Reihenfolge noch einmal alle ECM-Veröffentlichungen des Jahres 2025 und lassen dabei die Kritiker:innen etwas ausführlicher zu Wort kommen.
ECM Jahresrückblick 2025 (Teil 1 von 2)
ECM Jahresrückblick 2025 (Teil 1 von 2)
12.12.2025
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Obwohl sich Keith Jarrett bereits vor sieben Jahren von der Bühne verabschieden musste, war er 2025 der ECM-Künstler, der die meisten Schlagzeilen generierte. Am 8. Mai wurde sein 80. Geburtstag mit der Veröffentlichung des Live-Albums “New Vienna” von seiner letzten Solo-Europatournee im Jahr 2016 gefeiert. Im August erschienen in einer Deluxe-Box die kompletten Aufnahmen seines legendären Auftritts mit Gary Peacock und Paul Motian im “Deer Head Inn” auf Vinyl. Und im Dezember wurde anlässlich des bevorstehenden 50-jährigen Jubiläums der Aufnahme seines Dauerbrenners “The Köln Concert” eine luxuriöse “50th Anniversary Edition” auf Doppel-Vinyl herausgebracht. Zu den absoluten Höhepunkten des Jahres zählten aber auch die neuen Alben des Oud-Spielers Anouar Brahem und des Duos John Scofield und Dave Holland sowie eine bisher unveröffentlichte Live-Aufnahme des britischen Pianisten John Taylor mit Marc Johnson und Joey Baron. Alle ECM-Veröffentlichungen sowie Konzertvideos von ECM-Künstlern sind seit einiger Zeit auch im Angebot der Streaming-Plattform Stage+ zu finden.
 
Benjamin Lackner: Ebenso magisch wie magnetisch
Auf “Spindrift”, seinem zweiten Album für ECM Records, stellte der Pianist Benjamin Lackner ein neues internationales Quintett vor und verfolgte zudem frische kompositorische Ansätze. “Dem deutsch-amerikanischen Pianisten Benjamin Lackner geht mit Saxofonist Mark Turner, Trompeter Mathias Eick, Bassistin Linda May Han Oh und Drummer Mathieu Chazarenc eine Suite von erhabener Schönheit von der Hand”, bemerkte Wolf Kampmann in Eclipsed. “Fünf Musiker, die einander intensiv zuhören, um gemeinsame Wege, Ruhe- und Höhepunkte zu erkunden. Diese Musik legt sich wie ein wärmender Mantel um den Hörer. Lackners Melodien sind auf Anhieb einnehmend, das zugewandte Miteinander der fünf Beteiligten ebenso magisch wie magnetisch.” Gerd Filtgen schrieb in Stereo wiederum: “Die wundervollen Stimmungsbilder, die der deutsch-amerikanische Pianist in Stücken wie ‘Mosquito Flats’ und ‘Anacapa’ in eine geheimnisvolle musikalische Parallelwelt transferiert, können nur von Musikern weitergeführt werden, die wie Mathias Eick und Mark Turner die ästhetische Auffassung des Leaders teilen. Ihre epischen Improvisationen werden von der Bassistin Linda May Han Oh sensibel zu einer harmonischen Einheit zusammengefügt.”
 
François Couturier & Dominique Pifarély: Klassiker mit einer neugewonnene Intensität
Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit der Pianist François Couturier und der Geiger Dominique Pifarély ihr erstes Duo-Album “Poros” bei ECM veröffentlichten. Jahrzehnte, in denen sie an der Aufnahme einiger der emblematischsten Alben für das Label beteiligt waren: Couturier mit seinem Tarkowsky Quartet, im Duo mit der Cellistin Anja Lechner und als Partner von Anouar Brahem, Pifarély mit seinem eigenen Quartett sowie als Sideman von Louis Sclavis und Stefano Battaglia. Beide legten in dieser Zeit außerdem Soloalben bei ECM vor. Auf “Preludes And Songs” nahmen sie nun einen Neubewertung und Neuausrichtung ihrer Duo-Arbeit vor. “Bei ‘Poros’ lieferten die beiden Instrumentalisten vorwiegend Eigenkompositionen, mit Ausnahme von Mal Waldrons ‘Canto’”, schrieb Christian Bakonyi in Concerto. “Bei ihrem neuesten Album gehen Pifarély und Couturier einen etwas anderen Weg, folgen dem Albumtitel, bringen Präludien und Lieder, stellen diesmal dem Selbstkomponierten im Vergleich zu ‘Poros’ wesentlich mehr Standards gegenüber. Auf diese Weise bekommen Chansons wie ‘La Chanson De Vieux Amants’, Balladen wie ‘A Nightingale Sang In Berkeley Square’, J. J. Johnsons ‘Lament’, Ellingtons ‘Solitude’ und ’I Loves You Porgy’ von Gershwin eine neugewonnene Intensität, die vom Duo wunderbar eingefangen wird.”
 
Julia Hülsmann: Reizvoll erweitertes Klangrepertoire
Auf ihrem jüngsten Album “Under The Surface” wartet die Pianistin Julia Hülsmann mal wieder mit einem neuen Gesicht auf. Zu ihrem seit 2019 bestehenden Quartett gesellte sich diesmal in einigen Stücken die norwegische Trompeterin Hildegunn Øiseth. Sie erweitert das Arsenal exotischer Instrumente im Jazz auf dem Album um ein Bukkehorn (Ziegenhorn), das ihre nordischen Vorfahren schon in der Jungsteinzeit spielten. “Die zehn Stücke, zu denen alle Bandmitglieder Selbstgeschriebenes beigesteuert haben, strahlen durchweg eine heitere Verspieltheit aus, die mal ins eher Lyrische, dann wieder ins Vital-Ausdrucksvolle tendiert”, notierte Reinhold Unger im Münchner Merkur. “Bei der Hälfte der Stücke ist als Gast die norwegische Trompeterin Hildegunn Øiseth dabei, was den Charakter des bestens eingespielten Quartetts nicht verändert, aber das Klangrepertoire reizvoll erweitert. Ein rundum gelungenes, mit knapp 43 Minuten ganz aufs Wesentliche konzentriertes Beispiel für dezidiert europäischen Jazz.”
 
Yuval Cohen: Poet am Sopransaxofon
Auf seinem beeindruckenden ECM-Debütalbum “Winter Poems” offenbart der israelische Sopransaxofonist Yuval Cohen ein ganz eigenes Verständnis von kammermusikalischer Jazzdynamik. Unterstützt von den drei jungen Musikern seines Quartetts lotet der ältere Bruder des Trompeters Avishai Cohen ein breites Spektrum an Einflüssen aus, das von folkloristischen Idiomen bis hin zu motivischen Entwicklungen aus der klassischen Musik reicht. “Lyrik ist schon im Titel ‘Winter Poems’ evident, wenn der israelische Sopransaxofonist Yuval Cohen mit Pianist Tom Oren selbstbewusst aus der ‘Winterrreise’ von Franz Schubert zitiert”, beobachtete Hans-Dieter Grünefeld in der Neuen Musikzeitung. “Schnell fügen sich die Ondulationen über fragmentierter Rhythmik von Schlagzeuger Alon Benjamini und Bassist Alon Near quasi zu einem Opernszenario, wobei Yuval Cohen mit stoischem Sax-Cantus Regie führt. Lebhaft ist ‘The Dance of the Nightingale’, ein Folksong, der in Metamorphosen bis in eine Zone freier Assoziation führt und dann von Tom Oren in einer Dramaturgie mit Zäsuren wieder gebündelt wird. Analog dazu hat die Hommage à ‘Charlie’ (Chaplin) mit Melodica nostalgische Qualitäten und die unbestimmte Melancholie der ‘First Meditation’ über ein Levante-Motiv wird in fantastischem Interplay kollektiv gedeutet.
 
Mathias Eick: Nebelverhangene Melodien mit dem Feeling skandinavischer Volksmusik
Mit “Lullaby” ist dem norwegischen Trompeter Mathias Eick ein atemberaubend schönes, zugleich aber auch erstaunlich dynamisches und grooviges Album gelungen. Inspiriert von den Musikern seines neuen Quartetts, das so homogen klingt, als spiele es schon seit Jahren zusammen, beweist er hier seinen Einfallsreichtum als Komponist und seine Qualitäten als Improvisator. “So duftig und zart, wie diese Stücke zunächst wirken, erzählen sie von tiefem gegenseitigem Verständnis, Gemeinsamkeiten und der Individualität innerhalb des Quartetts”, schrieb Werner Stiefele in Rondo. “Dabei bilden der sanft wehende, atemreiche Trompetenklang von Eick und die kräftigeren, dunklen Impulse des Kontrabassisten Ole Morten Vågan einen spannungsreichen Rahmen, innerhalb dessen der Pianist Kristjan Randalu und der Schlagzeuger Hans Hulbækmo mit viel Fantasie und Feingefühl agieren. In Eicks nebelverhangenen Melodien schwingt das Feeling der skandinavischen Volksmusik mit, wobei immer wieder ein heller Funke wie ein Sonnenstrahl aus dem weißen Himmel blitzt. Dass er zweimal die Trompete beiseitelegt und lange, folkloristisch anmutende Töne singt, wirkt wie eine Referenz an eine weite, von Bergen und Ebenen geprägte Landschaft.
 
Billy Hart: Ausblick in ferne Dimensionen
Als Billy Hart 2003 sein Quartett mit dem Tenorsaxofonisten Mark Turner, dem Pianisten Ethan Iverson und dem Bassist Ben Street gründete, standen die jungen Spielpartner des überaus erfahrenen Schlagzeugers noch ziemlich am Anfang ihrer Karrieren. 22 Jahre später genießt das Quartett den Ruf, eine seltene Allianz von vier äußerst originellen Improvisatoren zu sein und zu den erfrischendsten Allstar-Bands der Jazzszene zu gehören. Diesen Status haben sie mit ihrem dritten ECM-Album “Just” eindrucksvoll und nonchalant unterstrichen. “Hart ist das unaufdringliche Epizentrum dieser Einspielung, die vor allem von Mark Turners sanften Linien auf dem Tenorsaxofon und Ethan Iversons vergnügten Akzenten auf den Tasten getragen wird”, bemerkte Wolf Kampmann in Eclipsed. “Hier geht es eher um eine zeitlose Feierlichkeit, deren spirituelle Connections tief ins Außermusikalische reichen. ‘Just’ wirkt wie ein Fenster, das nicht erst geöffnet zu werden braucht, um uns bereits einen Ausblick in ferne Dimensionen zu gewähren.
 
Jon Balke: Moderne Geistergeschichte für ein altes Instrument
Der norwegische Pianist Jon Balke bewegt sich bei seinen eigenen musikalischen Projekten seit jeher außerhalb der Konventionen des Jazz. Mal tut er dies mit so unterschiedlichen Bands wie dem Magnetic North Orchestra, Oslo 13, Batagraf oder Siwan, mal ganz allein am Klavier. Dabei manipuliert er den Klang des Instruments auf raffinierte Weise mit diversen Mitteln. Auf “Skrifum” präsentiert er ein von ihm mitentwickeltes elektronisches Audiowerkzeug namens Spektrafon, mit dessen Hilfe er eine abenteuerliche Reise in das Klanguniversum des Klaviers unternimmt. “Jon Balkes Album ‘Skrifum’ ist eine seltsam organische Angelegenheit, egal wie viel Wissenschaft aus dem Labor daran beteiligt sein mag”, konstatierte Michael Engelbrecht im Deutschlandfunk. “Wie aus einer Schattenwelt tauchen Klänge auf, mal verweilend, mal in die Stille abtauchend. Und sie tappen nicht in die ‘Drone-Falle’, indem sie besonders geheimnisvoll oder außerirdisch klingen. Vergessen Sie ‘New Age’ und ‘alte Tricks’. Dank Balkes geschärftem Bewusstsein, das (um der Bedeutung des isländischen Wortes ‘Skrifum’ zu folgen) von einem spitzen Bleistift bis zu einem breiten Pinsel reicht, ist jeder Track dieser abenteuerlich diskreten Musik eine kleine Welt für sich. Das ganze Album ist eine ruhig fließende, aufregende Reise, eine moderne Geistergeschichte für ein altes Instrument!
 
Nicolas Masson: Hörbarer Drang nach Freiheit und Eigenständigkeit
Der Saxofonist Nicolas Masson und seine Quartettkollegen Colin Vallon (Piano), Patrice Moret (Bass)und Lionel Friedli (Schlagzeug) kennen sich inzwischen seit rund zwei Jahrzehnten. In dieser Zeit haben die Musiker eine beeindruckende musikalische Intimität entwickelt, die auf “Renaissance”, dem zweiten ECM-Album der Band nach “Travelers” aus dem Jahr 2018, auf authentische und besonders schöne Weise zum Ausdruck kommt. Im Mittelpunkt des Albums, das neben zehn neuen Eigenkompositionen des Schweizer Saxofonisten auch eine kollektive Improvisation enthält, stehen kontrastierende Stimmungen und Formen. “Die Stücke verströmen diese eigentümlich vereinnahmende Mischung aus kühler Gelassenheit und emotionaler Tiefe, wie sie seit einiger Zeit dem modernen europäischen – vielleicht ‘nordisch’ geprägten – Jazz zugeschrieben wird”, schrieb Christof Thurnherr in dem Schweizer Magazin Jazz’n’More. “Noch immer hörbar ist sein Drang nach Freiheit und nach dem Eigenen in der Musik. Das Ergebnis ist weniger explosiv als explorativ. Und es passt vielleicht gerade deswegen in den Katalog des bekannten Labels.”
 
Vijay Iyer & Wadada Leo Smith: Musik voller Stolz, Würde und Unbeugsamkeit
Mit “A Cosmic Rhythm With Each Stroke”, das größtenteils aus improvisierten musikalischen Zwiegesprächen bestand, legten der Pianist Vijay Iyer und der Trompeter Wadada Leo Smith 2016 ein Album vor, das am Jahresende auf vielen Bestenlisten ganz oben stand. Nun ließen sie diesem Meisterwerk mit “Defiant Life” eine nicht minder faszinierende, tiefgründige Meditation über die Conditio humana folgen, in der die beiden Musiker sowohl über die Härten des Lebens als auch über die Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit des Menschen reflektieren. “Trotz ist keine politische Haltung, aber ein gute Voraussetzung für hartnäckigen Widerstandsgeist”, meinte Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. “Das Bekenntnis zu einem ‘Defiant Life’, einem trotzigen Leben, wie es der Pianist Vijay Iyer und der Trompeter Wadada Leo Smith ablegen, wird von Ereignissen genährt, die man ihrer Musik allein nicht anhört. Doch der Stolz, die Würde und die Unbeugsamkeit, die sie in sechs Stücken entfalten, passen zu den Widmungen der beiden einzigen Kompositionen. Smiths ‘Floating River Requiem’ gilt dem 1961 ermordeten kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba, Iyers ‘Kite’ dem 2023 in Gaza durch israelische Bomben zu Tode gekommenen palästinensischen Dichter Refaat Alarer. Auch sie sind weitgehend improvisiert und leben von jener brüchigen Schönheit, die schon das Vorgängeralbum ‘A Cosmic Rhythm with Each Stroke’ ausmachte.
 
Anouar Brahem: Quartett mit hochsensibler Wahrnehmung und Tiefsinn
Acht Jahre nach “Blue Maqams” hat sich der Oud-Virtuose Anouar Brahem mit einem aufregenden neuen Projekt zurückgemeldet. In der außergewöhnlichen kammermusikalischen Besetzung mit der Cellistin Anja Lechner, dem Pianisten Django Bates und dem Kontrabassisten Dave Holland präsentierte Brahem auf “After the Last Sky” elf bewegende Stücke, in denen sich das Ensemble in variierenden Konstellationen auf poetisch-musikalische Weise mit der “palästinensischen Frage” auseinandersetzt. Das Magazin JazzPodium kürte das Album zur “Platte des Monats”. “[Brahems] aktuelles Quartett teilt seine hochsensible Wahrnehmung und mit ihr seinen Tiefsinn”, merkt Wolfgang Gratzer dazu an. “Die Besetzung mit Dave Holland und Django Bates überschneidet sich mehrheitlich mit der 2018/19 tourenden ‘Blue Maqams’-Band, kommt aber ohne Schlagzeuger aus: An die Stelle von Jack DeJohnette tritt Anja Lechner. Die deutsche, international ensembleerfahrene Cellistin gibt sich von Anfang an als Kernmitglied zu erkennen. […] Brahem legt zusammen mit Lechner, Bates und Holland eine weitere Wegetappe in seinem Schaffen zurück und setzt einen Meilenstein, ohne sich neu erfinden zu müssen.”
 
Savina Yannatou & Primavera en Salonico: Respektvolle Ausdruckskraft gepaart mit hingebungsvoller Leidenschaft
In den Liedern von “Watersong”, dem fünften ECM-Album der griechischen Sängerin Savina Yannatou mit dem Ensemble Primavera en Salonico, geht es um das Wasser in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Als Gast gesellt sich die tunesische Sängerin Lamia Bedioui zu ihnen, mit der Savina Yannatou & Primavera en Salonico bereits auf ihrem 2003 erschienenen ECM-Debütalbum “Terra Nostra” zusammengearbeitet haben. “Savina Yannatou interpretiert Kompositionen aus der Renaissance, süditalienische Klagelieder und korsische Volksmelodien,” listet Jörg Konrad in Kulturkomplott auf, “sie vertont ein Gedicht des arabischen Prinzen Abu Firas al-Hamdani aus dem 10. Jahrhundert und, als Gegensatz hierzu, ein afro-amerikanisches Spiritual. Ihr begleitendes Instrumentalensemble spielt auf der Oud, dem Quanun, der Violine, dem Akkordeon, auf Trommeln, dem Kontrabass und dem Waterphone, einem Hybrid aus Wassertrommel, afrikanischem Lamellophon und einer Nagelgeige. Doch über allen strahlt und berührt die Stimme Savina Yannatou. Ihre respektvolle Ausdruckskraft zeichnet sich durch hingebungsvolle Leidenschaft aus, dabei immer auf der Suche nach einer seelischen Balance zwischen mediterranen Dialekten und Sprachen und einer melancholischen Verletzlichkeit, die dieses Album zu einer der berührendsten Aufnahmen dieses Frühjahrs werden lässt.
 
Joe Lovano & Marcin Wasilewski Trio: Spontan, überraschend und in hohem Maße emotional
Die Aufnahmen für “Homage”, das zweite Album des Tenorsaxofonisten Joe Lovano mit dem Trio des Pianisten Marcin Wasilewski, entstanden im Spätherbst 2023, als sich das Quartett mitten in einem einwöchigen Gastspiel im New Yorker Village Vanguard befand. Entsprechend abenteuerlustig und konzentriert gingen die Musiker bei der Aufnahmesession im legendären Van Gelder Studio in Englewood Cliffs, New Jersey, zu Werke. “Sie haben sich gesucht und gefunden: Seit ihrem gemeinsamen Album ‘Arctic Riff’ von 2020 haben der US-Amerikaner Joe Lovano und das Marcin Wasilewski Trio aus Polen zahlreiche Konzerte zusammengespielt und sind dabei immer enger zusammengewachsen”, konstatierte Sebastian Meißner in Sounds and Books. “Es entstand eine innige Verbindung, die von Vertrauen, tiefem wechselseitigem Respekt und der gemeinsamen Lust auf Entdeckungen geprägt ist. Die Musik dieses Quartetts spiegelt genau das wider. Sie ist spontan, überraschend und in hohem Maße emotional. Und sie erreicht auf ’Homage’ nochmal eine neue Dimension. Die sechs Stücke für das Album hat Lovano nur rudimentär vorkomponiert, um der Spontaneität und eigenen Ideen des Ensembles Raum zu lassen. ’Ich versuche Stücke zu komponieren, die die Tür aufmachen, um Gefühle auszudrücken und sich wirklich gegenseitig zuzuhören’, sagt Joe Lovano. ‘Genau darin besteht die Kommunikation und daraus entspringt die Magie der Musik.’ Diese Magie ist allgegenwärtig auf ‘Homage’.
 
Arve Henriksen, Trygve Seim, Anders Jormin & Markku Ounaskari: Ein Dialog der Epochen mit vielen hypnotischen Momenten
Arcanum” (Geheimnis oder Geheimmittel) haben Trompeter Arve Henriksen, Saxofonist Trygve Seim, Bassist Anders Jormin und Schlagzeuger Markku Ounaskari ihr Projekt genannt, das sie auf dem gleichnamigen Album bei ECM vorstellten. Gemeinsam begeben sich die vier Skandinavier dort auf eine fantasiereiche Gratwanderung zwischen freier Improvisation und nordischen Musiktraditionen. “Vier der aktuell prominentesten skandinavischen Jazzmusiker finden zu einem Gipfeltreffen zusammen, das sich trotzdem nicht als Supergroup versteht”, schrieb Wolf Kampmann in Eclipsed. “Die beiden Norweger Arve Henriksen und Trygve Seim an Trompete und Saxofon, der schwedische Bassist Anders Jormin und der finnische Drummer Markku Ounaskari kennen einander schon seit vielen Jahren aus verschiedenen Konstellationen. Auf ‘Arcanum’ gehen sie einen sehr intimen Quatrolog ein, in dem sie sich weniger an den sprichwörtlichen skandinavischen Klanglandschaftsbildern orientieren als an historischen Vorbildern wie dem Ornette Coleman Quartet, dem Tomasz Stanko Quartet der frühen 1970er Jahre oder der Band Old And New Dreams. So wird daraus ein Dialog der Epochen, der viele hypnotische Momente hat, unterschwellig aber auch eine subversive Reibung auslöst, die durch den dezenten Einsatz von Electronics noch verstärkt wird. Ein sehr starkes Album von ECM in der Auseinandersetzung mit der eigenen Labelgeschichte.
 
Keith Jarrett: Ans Übermenschliche grenzende Fantasie, Spontaneität und Virtuosität
Am 8. Mai 2025 feierte der Pianist Keith Jarrett, der sich nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2018 von der Bühne verabschiedet hatte, seinen 80. Geburtstag. Sein langjähriges Label ECM Records nahm das Jubiläum zum Anlass, um unter dem Titel “New Vienna” den vierten Konzertmitschnitt von seiner letzten, umjubelten Solo-Europatournee zu veröffentlichen. Wie schon bei den zuvor erschienenen Konzertaufnahmen aus München, Budapest und Bordeaux überschlug sich die internationale Presse wieder vor Begeisterung. “Wohl nie zuvor in seiner Karriere waren Jarretts Improvisationen stilistisch so vielfältig und mutig wie 2016”, meinte Hans-Jürgen Schaal in Jazzthetik. “Und in jedem Konzert, in jedem Stück, das er damals spielte, hat er quasi einen neuen musikalischen Kosmos entworfen. Gewiss, es gibt vergleichbare Stimmungen und Haltungen in den verschiedenen Konzerten. Doch in jedem Stück scheint Jarrett aus einem ersten Akkord, einem ersten Tastenlauf ein von Grund auf neues Musikwerk zu entwickeln – mit einer vielstimmigen, vieldimensionalen Fantasie, einer Spontaneität und Virtuosität, die ans Übermenschliche grenzen. In Wien waren es neun Improvisationen. Schon die erste ist eine Offenbarung: ein freier, explosiver Ausbruch in spontaner, kontrapunktisch konzipierter Harmonik und unfassbar schnellen Tonfolgen, und das zehn Minuten lang! Als Gegenstück zu dieser extremen Verdichtungsorgie folgt dann im zweiten Stück luftige, pausenerfüllte Reduktion. Es gibt auch eine Rhythmus-Impro à la ‘Köln Concert’ (Part Ill), einen abstrakt-atonalen Exkurs (Part VI), ein Eintauchen in Blues-, Gospel- und Country-Anklänge (Part VIII + IX). Als Zugabe dann einen Jazzstandard: ‘Somewhere Over the Rainbow’. So wie eine Woche später in München. Und doch eben wieder ganz anders.
 
Fred Hersch, Drew Gress & Joey Baron: Drei Meister des nuancierten Spiels
Nachdem der Pianist Fred Hersch auf seinen ersten beiden ECM-Alben einmal im Duo mit dem Trompeter Enrico Rava (“The Song Is You”, 2022) und einmal als Solist (“Silent, Listening”, 2024) zu hören war, präsentierte er sich auf “The Surrounding Green” im Trio mit dem Bassisten Drew Gress und dem Schlagzeuger Joey Baron. Mit beiden hatte der Pianist in der Vergangenheit schon oft zusammengespielt, jedoch nie in dieser Trio-Konstellation. In Audio/Stereoplay erhielt das Album sowohl für die Musik als auch für den Klang die Bestnote. “Wie differenziert Fred Hersch dem Flügel die Töne entlockt. Und wie melodiös”, geriet Werner Stiefele in seiner Rezension ins Schwärmen. “Jede Bewegung unterteilt er in leise und kräftige Töne, lässt den Ausdruck anschwellen und zurückfallen, nimmt die Dynamik mindestens so ernst wie die Melodieführung. Und dann noch Drew Gress und Joey Baron! Sie spielen auf Kontrabass und Schlagzeug ähnlich nuancenreich in den sieben Titeln. Das hört sich einfach und selbstverständlich an und zeugt in drei Kompositionen von Hersch und vier Coverversionen von Konzentration und Können – eine herrlich entspannte Atmosphäre ist die Folge. Diesen Reigen krönt eine federnde Fassung von ‘Embraceable You’. Sie wirkt, als habe das Trio eine versteckte Hommage an Ahmad Jamals legendäres Konzert ‘At The Pershing’beabsichtigt.
 
Mette Henriette: Kammermusikalischer Jazz in ungewöhnlicher Besetzung und kristallklarer Transparenz
Als “Drifting”, das lang erwartete zweite ECM-Album der norwegisch-samischen Saxofonistin und Komponistin Mette Henriette, 2023 auf CD erschien, wurde es vom amerikanischen Magazin DownBeat mit der selten vergebenen Höchstwertung von fünf Sternen ausgezeichnet und zu einem der besten Alben des Jahres ernannt. Nun ist das kammermusikalische Meisterwerk endlich auch als Doppelalbum auf Vinyl erhältlich. “So stellt man sich seit Jahrzehnten eine ECM-Produktion vor: kammermusikalischer Jazz in ungewöhnlicher Besetzung und kristallklarer Transparenz”, lobte Lothar Brandt im Magazin MINT. “Die CD-Version veröffentlichte das Münchner Label schon 2023. Woran auch immer die Verzögerung für die LP liegen mochte, Vinyl-Fans dürfen sich endlich freuen über das zweite Album von Mette Henriette. Aber Zeit scheint für die Tenorsaxofonistin ohnehin ein nachrangiger Faktor zu sein. Für ihr zwischen 2020 und 2022 produziertes Album ließ sie sich nach ihrem umjubelten Debüt fast acht Jahre Zeit. Die Norwegerin macht eben keinerlei kommerzielle Zugeständnisse. ‘Drifting’ geht den eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Mit ihren Mitmusikern Johan Lindvall (Piano) und Judith Hamann (Cello) inszeniert die Bandleaderin und Komponistin eine leise, meist sanfte Musik, die aber meilenweit von kuscheligen Ambient-Klängen entfernt spielt. Zunächst fordert diese Musik einen dazu auf, die Ohren zu spitzen, ehe man sich widerstandlos hineinziehen lässt in Henriettes ureigene Klangwelt.

Über das Label ECM

ECM Sounds
ECM Sounds
13.12.2024
Das unabhängige Label ECM -Edition of Contemporary Music- wurde 1969 vom Produzenten Manfred Eicher gegründet, und hat mittlerweile mehr als 1700 Alben veröffentlicht.
Der besondere Anspruch des Kulturunternehmens fand früh Beachtung. 1972 berichtete der Spiegel erstmals über das Label eines 29-jährigen Münchner “Einzelgängers”, für das sich immer mehr prominente US-Musiker interessierten: Weil dort, so das Nachrichtenmagazin, die “derzeit besten Jazz-Aufnahmen” erschienen, “mustergültig in Klang, Präsenz und Pressung”. Zweieinhalb Jahre lag die Gründung der Firma damals zurück. Der in Lindau geborene Manfred Eicher hatte in Berlin Kontrabass studiert. Nachdem er früh seine Liebe zu Musikern wie Bill Evans, Paul Bley, Miles Davis und dessen Bassist Paul Chambers entdeckt hatte, beschäftigte er sich auch intensiv mit Jazz. Als Produktionsassistent bei der Deutschen Grammophon hatte er höchste Maßstäbe bei der Aufnahme klassischer Musik kennen gelernt. Die dort übliche Präzision und Konzentration begann er nun auch auf die improvisierte Musik zu übertragen.
Free at Last” lautete, durchaus programmatisch, der erste Titel des neuen Labels, ein Album mit Musik des Amerikaners Mal Waldron. Maßgebende Aufnahmen von Keith Jarrett, Jan Garbarek, Chick Corea, Paul Bley, Egberto Gismonti, Pat Metheny und anderen folgten und begründeten die Reputation von ECM. Auch Namen wie Meredith Monk und Steve Reich tauchten seit Ende der siebziger Jahre regelmäßig im Programm auf.
Manfred Eichers Begegnung mit der Musik Arvo Pärts war wegweisend für die weitere Entwicklung des Labels. “Tabula Rasa”, eine epochale Aufnahme, die den Komponisten weltweit bekannt machte, legte 1984 den Grundstein für die New Series – und für eine kreative Partnerschaft, die über Jahrzehnte anhält. Auch Giya Kancheli, Valentin Silvestrov und Tigran Mansurian wurden durch Veröffentlichungen bei ECM dem breiten Publikum im Westen vermittelt; seit Jahren veröffentlichen György Kurtág und Heinz Holliger wesentliche Teile ihres Œuvres bei dem Münchner Label. Interpreten wie das Hilliard Ensemble, Kim Kashkashian, Gidon Kremer, Anja Lechner, das Danish String Quartet, Thomas Zehetmair und András Schiff legen exemplarische Interpretationen der Klassiker vor und sorgen für aufregende Repertoire-Neuentdeckungen. Genre- und kulturübergreifende Projekte bilden einen Katalogschwerpunkt beider Reihen – von den Aufnahmen des “Codona”-Trios um 1980 über “Officium”, das Zusammentreffen zwischen Jan Garbarek und den Hilliards (1993), bis hin zu François Couturiers Tarkovsky-Quartett.
Form und Beständigkeit der komponierten Musik haben Einzug in die Improvisation gehalten; andererseits wird in den inspirierten Interpretationen komponierter Werke immer wieder ein Moment von Risiko, Spontaneität und improvisatorischer Freiheit spürbar. Paul Griffiths, der britische Musikschriftsteller, bringt dies auf den Punkt: “ECM ist zu einem ganz eigenen Genre geworden, einem Genre mit unscharfen Rändern, aber einer deutlich definierten Mitte. Angesiedelt an einem Ort, an dem Musik unabhängig von ihrer Herkunft geschätzt wird. In einer Zeit, in der noch keine endgültigen Festlegungen gelten, in der selbst eine Aufnahme – scheinbar Abschluss des kreativen Prozesses – ihren Wert darin erweist, dass sie eine Frage aufwirft, oder mehr als eine.”
Von Anfang an orientierte sich ECM am Modell der Autorenpflege literarischer Verlage. “Unsere Arbeit basiert auf dem Prinzip der Dauer”, hat Manfred Eicher einmal in einem Interview gesagt. Viele der Musiker, die Anfang der siebziger Jahre als Mittzwanziger ihre ersten Aufnahmen bei ECM vorlegten, sind dem Label bis heute verbunden. “Wichtig ist auch, dass sich Beziehungen zwischen den Künstlern des Verlages entwickeln, denn das kommt ihrem Schaffen zugute”, sagt Eicher. Als Recording Producer versteht er sich als Partner der Künstler, der von der Auswahl der Aufnahme-Orte, über die musikalische Formung des Albums bis hin zum Cover-Design federführend an allen Arbeitsprozessen beteiligt ist. Apropos Cover: Die ECM-Plattenhüllen, viel bewundert und viel kopiert, haben Design-Geschichte geschrieben. Zwei opulente Bände hat der Schweizer Lars Müller Verlag der Covergestaltung des Labels gewidmet.
Oft wird ECM mit einem klaren und obertonreichen Aufnahmeklang identifiziert. Dennoch gilt, dass ein pauschaler “ECM-Sound” so nicht existiert. Die Aufnahme richtet sich nach dem Aufzunehmenden, nicht umgekehrt. “Natürlich wenden wir auch technisch alle erdenkliche Sorgfalt auf”, sagt Manfred Eicher. “Das Entscheidende aber ist die Musik selbst sowie die ästhetische Vorstellung, die mit ihr verbunden ist. Und daraus ergeben sich jeweils die Charakteristika des Klangs.”

ECM Podcast (YouTube)

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