Dass Gary Peacock eine besondere Vorliebe für das klassische Klavier-Trio-Format entwickelt hat und mit dieser Besetzung vieler seiner besten Aufnahmen machte, sollte einen nicht verwundern. Er gehörte früh zu den Bassisten, die dem Instrument eine neue Rolle als unabhängige melodische Stimme verschafften. Und er tat dies vor allem in Trios mit Pianisten wie Paul Bley, Bill Evans und Keith Jarrett, die Jazzgeschichte schrieben. Sein ECM-Debüt als Leader machte Peacock 1977 mit dem Album “Tales Of Another”, auf dem er mit Jarrett und Jack deJohnette zu hören war. Dasselbe Ensemble sollte ein paar Jahre später unter der Leitung des Pianisten als “Standards”-Trio weit über den Jazzkreis hinaus bekannt werden. Seit 2014 sorgt der Bassist mit einem neuen Trio für Furore: seine Partner sind dort Pianist Marc Copland und Schlagzeuger Joey Baron. Für sein erstes gemeinsames Album “Now This”, das 2015 bei ECM herauskam, erntete das Trio auf beiden Seiten des Atlantik viel Lob. Der Guardian fand das Album “fesselnd”, während All About Jazz meinte: “Diese Musiker sind immer präsent: sie hören einander zu, reagieren auf einander, wissen, wann sie spielen sollen und wann nicht.” Das trifft zweifellos auch auf das außergewöhnliche Nachfolgealbum “Tangents” zu. Das ungemein elastisch agierende Trio, dessen muskulöse Virtuosität stets durch poetische Kraft gezügelt wird, spielt hier vorwiegend eigene Kompositionen (fünf von Peacock, zwei von Copland und eine von Baron) und atmosphärische Improvisationen, aber auch hinreißende Interpretationen zweier Klassiker, die oft mit Bill Evans assoziiert werden:"Blue In Green" und “Spartacus Love Theme”.
Seine Zusammenarbeit mit Copland begann Peacock in den frühen 1980ern: “Ich verspürte sofort eine Kompatibilität mit Marc”, erinnert sich der Bassist. “Diese hat sich über die Jahre hinweg, in denen wir im Duo-, Trio-, Quartett- und Quintett-Format miteinander arbeiteten, noch entwickelt und vertieft. Als Komponist eröffnet er einem mit seinen Harmonien wirkliche Möglichkeiten, so wie in ‘Talkin’ Blues' auf dem neuen Album. Marc und ich sind uns insofern sehr ähnlich, als wir beide etwas anstreben, das nicht konzeptualisiert werden kann – etwas mehr Intuitives. Wir geben uns ganz der Muse hin.” Copland ergänzt: “Risiken einzugehen ist die Essenz des Jazz. Das habe ich schon immer so empfunden, und als ich begann, mit Gary Peacock zu spielen, wusste ich, dass ich eine musikalische Seele gefunden hatte, die daran ebenso sehr glaubte wie ich.”
Joey Baron, ein Veteran vieler ECM-Sessions, steuerte neben seiner detailreichen Arbeit am Schlagzeug mit der Komposition “Cauldron” auch einen der kompositorischen Höhepunkte zum Album bei. “Ich habe mit Joey vor fünf oder sechs Jahren schon in einem Quartett mit Lee Konitz und Bill Frisell gespielt”, erinnert sich Peacock. “Daher wusste ich, dass er sehr musikdienlich spielt und immer genau hinhört. Marc und ich hatten bereits verschiedene Schlagzeuger ausprobiert, aber als wir mit Joey eine Woche lang im Birdland auftraten, wussten wir sofort, dass er der der richtige Mann für unser Trio war. Wie Roy Haynes hat Joey einen einfühlsamen Anschlag. Er kann brillant swingen, selbst wenn er leise spielt. Nach dem Birdland-Engagement rief ich Manfred an, um ihm zu sagen, dass wir diese Band aufnehmen müssten. Dieses Trio hat ein echtes Gespür für Freiheit, weil sich keiner in den Vordergrund spielen möchte. Wir hören darauf, dass uns die Musik sagt, was wir tun sollen.”
Auf “Now This” hatten Peacock, Copland und Baron einige Schlüsselkompositionen des Bassisten neu interpretiert: “Moor”, “Gaia”, “Vignette” und “Requiem”. Für “Tangents” nahmen sie neben neuen Paecock-Kompositionen wie dem melodiereichen “Contact” oder dem an Ornette Coleman erinnernden “Rumblin'” auch den Klassiker “December Greenwings” auf, den der Bassist erstmals 1978 mit Jan Garbarek für das ECM-Album “December Poems” und dann noch einmal 2000 für das ECM-Album “Amaryllis” mit Marilyn Crispell und Paul Motian eingespielt hatte. “Mit anderen Instrumenten und Persönlichkeiten gewinnt das Stück auch eine andere Qualität – man könnte sagen, dass jede Aufnahme einen neuen Blick auf dasselbe Territorium wirft”, sagt Peaccock. “Was mich an dem Stück reizt, ist, dass es kein festgelegtes Tempo hat. Diese Sorte Musik zieht mich immer stärker an. Bei einem Stück wie ‘Gaia’ ist es erforderlich, dass man im Takt bleibt – es ist wichtig für das Stück. Aber bei ‘December Greenwings’ ist es ganz anders. Dieses taktfreie Spielen lernte ich in den 1960ern kennen, als ich mit Albert Ayler und Don Cherry arbeitete – wir hielten uns nicht an Takte. Keine Akkorde, kein Zurückkehren zur Melodie, keine Taktvorgaben – es war wirklich freie Musik.”
Angezogen fühlt sich Peacock, wie er sagt, auch immer mehr von allem, was über das Konzeptionelle hinausgeht. “Konzepte können einen beim Improvisieren einschränken – man wird von dem, was man vorher entworfen hat, begrenzt und kann sich nicht einfach der Musik hingeben, während sie sich entwickelt, und seiner Intuition folgen. Theorie und Technik sind wichtig, aber das ist nicht genug – sie stellen einem nur eine Art Milieu bereit. Seine Muse zu finden ist nicht leicht. Man kann sie nicht fassen, man kann sie nicht herbeirufen – und der Himmel weiß, dass ich alles ausprobiert habe, um das zu schaffen. Mir ist bewusst geworden, dass man einfach den Weg frei machen und zuhören muss. Sie ist da, wenn man wirklich hinhört.”