Es gibt nur wenige junge Musiker, die auf ihrem Instrument über eine solche klangliche Bandbreite verfügen wie der Altsaxofonist Immanuel Wilkins. Mal ist sein Ton berauschend lyrisch oder sinnlich, dann wieder schneidend scharf oder rau. Und oft lässt Wilkins sein Instrument wie eine menschliche Stimme klingen. “Die Stimme”, sagt er, “ist dem Saxofon sehr ähnlich, da sie auch ein Luftinstrument ist, dem man Leben einhaucht.” Seit er Musik macht, hat Wilkins immer wieder mit Vokalisten zusammengearbeitet. Zunächst in seiner Kirchengemeinde – als Mitglied der Kirchenband – mit Chören und Solisten, später als Begleiter von so unterschiedlichen Gesangsstars wie Gretchen Parlato, Lala Hathaway, Solange Knowles und Bob Dylan. Auf seinen ersten beiden Alben für Blue Note, die von der internationalen Presse euphorisch gefeiert wurden, hatte er noch allein mit seinem Altsaxofon die Rolle des inbrünstigen “Sängers” übernommen. Auf “Blues Blood” treten Immanuel Wilkins und die Musiker seines eingespielten Quartetts – Pianist Micah Thomas, Bassist Rick Rosato und Schlagzeuger Kweku Sumbry – nun erstmals in einen faszinierenden Austausch mit drei Sängerinnen und einem Sänger, die ganz unterschiedliche kulturelle Wurzeln haben: Ganavya südindische, Alyssa “June” McDoom jamaikanische, Yaw Agyeman nigerianische und Cécile McLorin Salvant französische. “Ich wollte Musik schreiben, die ein Gefühl von Gemeinschaft vermittelt”, erklärt Wilkins, der das Album zusammen mit Meshell Ndegeocello auch produziert hat. “Es ging darum, eine Art Wandteppich aus Gesang zu schaffen, fast wie eine Versammlung von Stimmen, die ihr eigenes Ding machen.”
Immanuel Wilkins wurde 1997 in Upper Darby, einem Vorort von Philadelphia, geboren und interessierte sich schon früh für Musik. Mit drei Jahren begann er zu singen und Geige zu spielen, wechselte ein Jahr später zum Klavier und landete schließlich beim Altsaxophon. Erste Spielerfahrungen sammelte er im Schulorchester und in der Band seiner Kirchengemeinde (mit der er noch heute, wenn er seine Familie in Upper Darby besucht, Hymnen und populäre Gospelsongs im Gottesdienst spielt). Zum Jazz kam Wilkins, als er im Kimmel Center for Performing Arts in Philadelphia Kurse unter der Leitung von Marc Johnson und Anthony Tidd besuchte. “Ich habe von Leuten gelernt, die ernsthafte Jazzer und Legenden in der Szene von Philadelphia sind”, sagt er. “Nicht jeder hat die Chance, mit solchen Cracks abzuhängen. Ich konnte mit dem Sun Ra Arkestra spielen und mit Leuten wie Mickey Roker, Edgar Bateman, Charles Fambrough, Marshall Allen und Trudy Pitts. Sie haben mich zu dem geformt, der ich heute bin.”
2015 zog Wilkins nach New York, um an der renommierten Juilliard School zu studieren. Kurz nach seiner Ankunft lernte er dort den Trompeter und Komponisten Ambrose Akinmusire kennen, der zu seinem Mentor wurde und ihn in die Szene einführte. Ebenso wichtig war für ihn die Begegnung mit dem Pianisten Jason Moran, mit dem er seine erste internationale Tournee unternahm. Moran war es auch, der Don Was von Blue Note auf den jungen Saxofonisten aufmerksam machte und 2020 Immanuel Wilkins’ Solodebüt “Omega” für das Label produzierte. Andrian Kreye nannte es seinerzeit in der Süddeutschen Zeitung eines der wichtigsten Jazzalben des Jahres und schrieb: “Der Altsaxofonist Immanuel Wilkins ist zwar noch sehr jung, aber er hat den Ideenreichtum eines Veteranen. Weil er den im Quartett-Rahmen mit großer Eleganz und Leichtigkeit ausstößt, ist ‘Omega’ ganz einfach ein fantastisches Modern-Jazz-Album, dem man erst beim mehrmaligen Hören anmerkt, wie viele Grenzen es überschreitet.” Noch größere Begeisterung löste Wilkins zwei Jahre später mit dem Nachfolgealbum “The 7th Hand” aus, auf dem er mit seinem Quartett und dem Percussion-Ensemble Farafina Kan eine siebensätzige Suite präsentierte, in der es um biblische Symbolik und die Verbindungen zwischen dem Dasein und dem Nichts geht. “Zeitgenössischer Jazz in seiner aufregendsten Form”, urteilte das britische Musikmagazin Mojo und gab dem Album die Höchstwertung.
Darüber hinaus ist Immanuel Wilkins bei Blue Note auch auf vier Alben des Vibraphonisten Joel Ross, zwei Alben des Schlagzeugers Johnathan Blake und einem Album des Keyboarders James Francies zu hören.
Stand: November 2024