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Kurt Elling
Kurt Elling
Mit seinem neuen Album feiert Kurt Elling – der unbestritten herausragende Jazzvokalist der Gegenwart – ein legendäres Vermächtnis der Popwelt. Auf “1619 Broadway – The Brill Building Project” zollt er einem Ort Tribut, den der Londoner Telegraph einst als “die bedeutendste Erzeugungsstätte von Popsongs in der westlichen Welt” bezeichnete. Und wenngleich Elling ein unablässig einfallsreicher Sänger und Lyriker ist, kommt dieser Schritt doch unerwartet, bestätigt zugleich aber auch seine Reputation als kühner Innovator und superber Musiker.

“Nachdem ich schon so viele Projekte durchgezogen hatte, die eine Liebeserklärung an Chicago waren, wollte ich etwas machen, um meiner Liebe zu New York Ausdruck zu verleihen”, erläutert Elling. Beide Städte haben seine Karriere definiert. Elling lernte sein Handwerk in Chicago und nahm dort einige seiner frühen Alben auf – darunter natürlich sein Debütalbum “Close Your Eyes”, das ihn national bekannt machte und ihm zudem seine erste Grammy-Nominierung einbrachte. (Bei dieser Gelegenheit sei gleich verraten, dass jedes einzelne seiner bislang neun Alben für mindestens einen Grammy nominiert wurde – ein Kunststück, das außer ihm noch niemand vollbracht hat!)

Seit 2008 lebt Elling mit seiner Familie nun aber schon in Manhattan, und mit “1619 Broadway – The Brill Building Project” zollt er New York erstmals Tribut.

“Ich wollte nicht zu den New Yorker Songwritern Zuflucht nehmen, auf die Jazzmusiker üblicherweise zurückgreifen: die Gershwins, Rodgers und Hart oder Cole Porter. Ich liebe sie alle, aber ich wollte etwas anderes machen. Und die riesige Songkollektion, die das Brill Building hervorgebracht hatte, schien mir eine wahre Goldmine zu sein.”

Das legendenumwobene Brill Building findet man am Broadway, im Herzen von Midtown-Manhattan, unter der Hausnummer 1719 und glich über Jahrzehnte einer Honigwabe aus Büros und klaustrophobischen Studios. In seiner besten Zeit (1962) waren dort mehr als 160 Mietparteien untergebracht, die als Kreative im Popmusikgeschäft tätig waren. Von diesen war die große Mehrheit Komponisten und Lyriker. Ab Mitte der 1930er Jahre bis in die frühen 1970er Jahre hinein produzierten die Architekten des “Brill Building Sounds” am Fließband den Großteil der Popsongs, mit denen drei Generationen von US-Amerikanern aufwuchsen.

Unter dem Begriff “Brill Building Sound” sind zahllose Rock’n’Roll-Meisterwerke zusammengefasst, die das Genre definierten und seinen Reifungsprozess markierten. Diese sofort wiedererkennbaren Songs stammten von Songwriting-Teams wie Jerry Leiber und Mike Stoller (“Stand By Me”), Gerry Goffin und Carole King (“Will You Still Love Me Tomorrow?”), Barry Mann und Cynthia Weil (“You’ve Lost That Lovin’ Feeling”) sowie Burt Bacharach und Hal David (“Walk On By”). Diese und andere Teams schufen einen Hit nach dem anderen. Dabei arbeiteten sie in einer Umgebung mit papierdünnen Wänden, die jedem erlaubte, zu hören, was die anderen taten. So konnten sie ständig dazulernen und manchmal auch Ideen von der Konkurrenz abstauben. Das Brill Building war damals ein höchst produktives und kompetitives Treibhaus, in dem man zusammenarbeitete und sich gegenseitig mit Ideen befruchtete.

Als Kurt Elling sich daran machte, Material für sein Album zu sichten, wußte er bereits, dass dies eine besondere Herausforderung werden würde, “weil das Brill Building so sehr mit Doo-Wop assoziiert ist”. Und in diesem Genre ist er nicht gerade zuhause. Deshalb wandt er sich hilfesuchend an einen Freund: den Hit-Songwriter und Musikerzieher Phil Gladston (“Save The Best For Last”).

“Das ist wirklich sein Metier, und er betrieb für mich eine enzyklopädische Nachforschung”, sagt Elling. “Wir müssen ein paar Hundert Songs in der Hand gehabt haben, bevor wir begannen, das Material einzugrenzen. Phil machte einen fantastischen Job, indem er die Songs in erste, zweite und dritte Wahl einteilte. Einige meiner Favoriten, wie der Klassiker “On Broadway”, standen von vornherein fest. Andere, wie das hippe ‘Shoppin’ For Clothes’ von den Coasters, erweckten erst später meine Aufmerksamkeit.” Tatsächlich kommt dieser B-Seiten-Song Ellings Vorliebe für Spoken-Word-Spaß, Spielerisches und Hipster-Slang sehr entgegen.

Ein weitere überraschende Wahl ist der von Goffin und King geschriebene sozialsatirische Song “Pleasant Valley Sunday”. “Ich hatte diese Nummer zunächst ohne viel Federlesen abgelehnt, bis ich Zeit hatte, sie einsickern zu lassen und mir eine Idee kam, wie ich das Stück handhaben könnte.” Diese Version kombiniert John McLeans “retrolektrische” Gitarre, authentische Sound-Clips der 1960er Jahre und ein Audioprofil, das an Ken Nordines Klassiker “Word Jazz” erinnert. Das Resultat ist trippiger und dunkler als das Original und weckt Erinnerungen an ein paar Sachen, die die Monkees erstmals 1967 machten.

Einige Jazzfans mögen angesichts der ausgewählten Songs skeptisch eine Augenbraue hochziehen. Aber sie täten gut daran, wenn sie sich erinnern würden, dass viele der größten Jazzkünstler des 20. Jahrhunderts – von Louis Armstrong über Sonny Rollins und Miles Davis bis Herbie Hancock – Popsongs aus einer bestimmten Ära erfolgreich in Jazzstandards einer anderen Generation transformiert haben. Nichts anderes hat Kurt Elling in seiner gesamten Karriere gemacht. Er hat das Jazzrepertoire beständig erweitert und auf seinen Alben unter anderem Songs von Rockbands wie den Zombies oder King Crimson eingestreut.

Ein paar der Stücke von “1619 Broadway – The Brill Building Project” wurden tatsächlich erst geschrieben, als die Komponisten das Brill Building längst verlassen hatten. “Carole King, die wie so viele andere für den ‘Brill Building Sound’ steht, hatte dort eigentlich nie ein eigenes Büro. Deshalb sollte man da also nicht allzu penibel sein. Das Brill Building ist sowohl eine physikalische Realität als auch ein mentales Konstrukt; und aus diesem Grund hatte ich auch kein Problem damit, mein Netz etwas weiter auszuwerfen.”

Mit seinem Netz fing Elling mehr Rock- als Doo-Wop-Songs ein. Wie seine inspirierte Songauswahl zeigt, war das Brill Building seit den 1930er Jahren ein musikalischer Bienenstock, in dem auch Irving Berlin, Sammy Cahn, Johnny Mercer und Harry Warren ein- und ausschwirrten. Eine Untersuchung ergab, dass von den rund 1.200 Songs, die zwischen 1935 und 1948 in der Radio- und Fernsehsendung “Your Hit Parade” gespielt wurden, über 400 von Brill-Songwritern stammten. Darunter befanden sich auch solche Standards wie “I Only Have Eyes For You” (von Harry Warren und Al Dubin, 1934) und die Sinatra-Erkennungsmelodie “Come Fly With Me” (von Jimmy Van Heusen und Sammy Cahn, 1957).

Zu den zeitweisen Mietern gehörten auch Duke Ellington, Nat “King” Cole und andere Stars der Swing-Ära. Auch ihnen räumt Elling auf seinem Album etwas Platz ein: mit Ellingtons “Tutti For Cootie”, das der Bandleader eigens für seinen unvergleichlichen Trompeter Cootie Williams geschrieben hatte. Am entgegengesetzten Ende findet man wiederum Paul Simon, der noch heute ein Büro im Brill Building hat, und von dem Elling hier “American Tune” interpretiert.

Mit “1619 Broadway – The Brill Building Project” hat Kurt Elling wieder mal ein Meisterwerk vollbracht. Und es würde nicht weiter überraschen, wenn er dafür nun seinen zweiten Grammy erhalten würde. Denn auch den ersten strich er 2010 für eine unerwartete Hommage ein: das Album “Dedicated to You: Kurt Elling Sings the Music of Coltrane and Hartman”.
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