Die Inspirationen zu seinem dreizehnten ECM-Soloalbum “Characters On A Wall” bezog der französische Klarinettist Louis Sclavis aus zwei grundlegenden Quellen: der interventionistischen Streetart von Ernest Pignon-Ernest und der interpretativen Brillanz seines fantastischen neuen Quartetts. Sclavis ist hier erstmals auf einem ECM-Album in einer klassischen Jazzbesetzung mit Holzblasinstrumenten, Klavier, Bass und Schlagzeug zu hören. “Das ist eine Instrumentalkonstellation, die ich schon seit langem nicht mehr benutzt hatte”, sagt Sclavis. “Sie kommt mir immer noch neu vor, und die Band wirkt wie eine echte Jazzgruppe – in Bezug auf ihre Zusammensetzung, die Klangfülle und den Sinn für das Zusammenspiel.” Das kanonische Format scheint gut zum Thema des Albums zu passen, wenn man bedenkt, dass Pignon-Ernest als ein Klassizist unter den Straßenkünstlern gilt, der technische Beherrschung und kompositorische Eleganz mit einem Gespür für subtile Farbgebung und emotionales Drama ausbalanciert.
Fünf Sclavis-Kompositionen – “L’heure Pasolini”, “La dame de Martigues”, “Extases”, “Prison” und “Darwich dans la ville” – sind musikalische Antworten auf Pignon-Ernests In-situ-Gemälde zwischen Paris und Palästina. Mit “Shadows And Lines” enthält das Album außerdem ein Stück des Pianisten Benjamin Moussay. Moussay, der in den zurückliegenden beiden Dekaden häufig mit dem Klarinettisten gearbeitet hat, spielte auch schon auf Sclavis' ECM-Alben “Sources” (2011) und “Silk And Salt Melodies” (2014) eine Schlüsselrolle. Komplettiert wird das Repertoire durch zwei Kollektivnummern – “Esquisse 1” und “Esquisse 2” -, bei denen der improvisatorische Einfallsreichtum der neuen Quartett-Mitglieder Sarah Murcia (Bass) und Christophe Lavergne (Schlagzeug) wunderbar zur Geltung kommt.
“Characters On A Wall” ist nicht das erste Album, auf dem Louis Sclavis Musik präsentiert, die von Ernest Pignon-Ernests Werken inspiriert wurde. Auf dem 2002 eingespielten ECM-Album “Napoli’s Walls” hatte er sich mit den Wandgemälden auseinandergesetzt, die Pignon-Ernest in der Stadt Neapel geschaffen hatte. Doch diesmal wirft Sclavis einen Blick auf ein breiteres Spektrum des Künstlers. “Ernests Arbeiten sprechen mich sehr direkt an”, erklärt Sclavis. “Wenn ich seine Bilder betrachte, muss ich nicht lange suchen – da kommen mir sehr schnell Ideen. Aber es gibt keine Regel, keine Methode. Jedes Werk generiert seine eigene Form und seinen eigenen Kompositionsprozess.”
Die Village Voice nannte Louis Sclavis einmal “den beeindruckendsten Bassklarinettisten seit Eric Dolphy”. Aber sein wirkliches Instrument ist, wie er schon oft bewiesen hat, tatsächlich das Ensemble. Er weiß stets, wie er seine Gruppen zum Singen bringen kann. Jede seiner Bands hatte einen sehr ausgeprägten Charakter, der von Sclavis genutzt wurde, um ein breites Themenspektrum abzuhandeln.
“Sclavis erfindet sich immer wieder neu”, merkt Stéphane Ollivier im Begleittext des Albums an. “Der Klarinettist erweitert sein Universum immer mehr an den Grenzen etablierter Genres und Stile, stößt vor auf ein hybrides, sich wandelndes Terrain, auf dem sich das Erlernte und das Bekannte, das Ultrazeitgenössische und das Traditionelle treffen.”