Eine der bezauberndsten Stimmen des modernen Jazz und weit darüber hinaus
Für ihre Compilation “The Essential” hat die US-amerikanische Sängerin und Songschreiberin Melody Gardot 22 Highlights aus ihren bisherigen Alben zusammengestellt. Und überrascht zusätzlich mit zwei bisher unveröffentlichten Aufnahmen als Bonustracks.
Melody Gardot
22.10.2024
“Wer ist Melody Gardot, und wie lässt sich ihre musikalische Identität am besten beschreiben?”, fragt Ashley Kahn in den Liner Notes zu “The Essential Melody Gardot” und versucht eine Antwort zu geben. “Unter den Elementen, die Melody Gardot und ihre Musik am meisten auszeichnen – ihre Stimme, ihre Songs, ihr Gesamtkonzept – drängen sich einige Offenbarungen in den Vordergrund. Zum Beispiel, dass ihr Ansatz zeitlos originell ist und sie sich in keine Schublade stecken lässt. Zugleich aber steht sie eindeutig in einer langen Gesangstradition, die von cooler Gelassenheit, gedämpfter Intimität und selbstbewusster Weiblichkeit geprägt ist. Man denke nur an Billie Holiday, Peggy Lee, Édith Piaf, Blossom Dearie, Chris Connor, Shirley Horn, Astrud Gilberto… und viele andere. Ihr Stil zeichnete sich durch minimale Gestik und maximale Ausstrahlung aus. Es ist ein Stil, der Generationen überdauert hat und in verschiedenen Sprachen funktioniert. Ein Stil, der bis heute nichts von seiner Lebendigkeit und Anziehungskraft verloren hat.”
Überzeugen kann man sich davon auf dem Album “The Essential Melody Gardot”, das weit mehr als nur eine Best-of-Zusammenstellung ist. Für das Repertoire hat Melody selbst eine großzügige Auswahl von 24 Titeln aus all den Alben getroffen, die sie zwischen 2008 und 2022 für Verve und Decca aufgenommen hat. Fünf der Songs erscheinen hier erstmals auf Vinyl. “Ich habe versucht, eine Atmosphäre zu schaffen, wie ich es auch bei der Setlist für ein Konzert tun würde”, sagt sie. “Das gilt ganz besonders für die Vinyl-Edition, bei der ich darauf geachtet habe, dass jede Seite ihre eigene Atmosphäre hat.”
Die meisten Songs stammen aus Gardots sechs Studioalben, von ihrem Major-Label-Debüt “Worrisome Heart” (2008) bis zu ihrer jüngsten Duo-Aufnahme “Entre eux deux” (2022) mit dem brasilianisch-französischen Pianisten Philippe Baden Powell. Einige dieser Stücke sind Remixe oder alternative Versionen, die nicht überall oder nur auf Sondereditionen erschienen sind. So etwa ihre halb gesungene, halb gesprochene Interpretation von Elton Johns “Love Song” (ein Bonustrack der Deluxe-Edition von “Sunset In The Blue”), in der der Trompeter Ibrahim Maalouf mit einem einfühlsamen Solo glänzt. In anderen Nummern kommt Gardots Mehrsprachigkeit zum Tragen, wenn sie mit der Leichtigkeit und Gewandtheit einer Muttersprachlerin auf Französisch (“La chanson des vieux amants”, “La vie en rose”) oder Spanisch (“La Llorona”) singt.
Vier Live-Aufnahmen von “Les étoiles”, “Love Me Liker A River Does”, “Bad News” und dem Bill-Withers-Evergreen “Ain’t No Sunshine” vermitteln einen Eindruck von der Ausgelassenheit und Unmittelbarkeit, die bei ihren Konzerten herrscht. “Ich liebe die Verletzlichkeit, der man sich bei einer Live-Performance aussetzt”, sagt Gardot, “die Atmosphäre ist unverfälscht und ehrlich.” Angetrieben von einer sehr groovigen Rhythmusgruppe und fetzigen Bläsersätzen geht die Sängerin hier oft weit mehr aus sich heraus, als man es von ihren Studioalben gewohnt ist.
Als besonderes Zugabe gibt es zwei nie zuvor veröffentlichte Aufnahmen, für die allein die Anschaffung von "The Essential Melody Gardot" lohnt. “La Llorona” ist eine eindringliche mexikanische Ranchera-Ballade voller Tragik und mit schier endlosen Strophen. Die große Joan Baez hatte das Stück 1974 für ihr spanischsprachiges Album “Gracias a la Vida” eingesungen. Bei einem Konzert auf Mallorca bot Gardot einem dankbaren Publikum 2019 eine wesentlich dramatischere Version mit sanfter Gitarren- und Cellobegleitung.
Für Begeisterung dürfte bei Melody-Gardot-Fans auch die zutiefst melancholische Interpretation von Charlie Hadens “First Song” sorgen. Denn aufgenommen hat sie den unter die Haut gehenden Klassiker noch im Duo mit dem 2014 gestorbenen Bassisten, der das Stück hier mit einem wunderschönen, mit Bogen gespielten Intro beginnt. Bis heute schätzt sich Gardot glücklich, dass sie die einmalige Gelegenheit hatte, mit dem legendären Bassisten zusammenzuarbeiten. Allerdings bedauert sie, dass er in den USA viel zu wenig bekannt ist. “Ich weiß, dass Charlie hier in Frankreich bis zuletzt sehr populär war”, sagt sie. “Das Publikum kannte ihn und liebt ihn immer noch. Aber als ich nach Los Angeles reiste und erzählte, dass ich eine Aufnahme mit Charlie Haden machen würde, erntete ich nur Schulterzucken und die Leute sagten: ‘Wer? Welcher Charlie?’” Wer weiß, vielleicht gelingt es ihr, diesen traurigen Umstand zu ändern. Denn die intime Duo-Aufnahme ist sicherlich einer der absoluten Höhepunkte von “The Essential Melody Gardot”.