Es ist wie mit dem rosafarbenen Elefanten: Sobald man ihn erwähnt, ihn vielleicht sogar sieht, ist er in den Gedanken, nicht unsichtbar und vor allem nicht ungedacht zu machen. Am besten thematisiert man ihn, dann ist er aus dem Weg. Melody Gardots nackter Po auf dem Cover von “Live in Europe” kann man nicht ignorieren. Sehen wir also einfach hin: Da steht eine nackte Frau, nur von einer Gitarre bedeckt, im Rampenlicht auf einer dunklen Theaterbühne. Was das symbolisiert, können wir uns schnell denken: die Nacktheit des Künstlers vor seinem Publikum, die totale Offenheit und schamlose Hingabe, es gibt keinerlei Verkleidung, sondern Intimität bis zum Äußersten. Dass Melody Gardot ihre Darbietung auf der Bühne auch aus dieser Perspektive betrachtet, können wahrscheinlich all diejenigen gut verstehen, die ihr schon einmal stundenlang zugehört haben. Die intime Intensität ihres Vortrags ist weiten Teilen eines Konzerts einfach atemberaubend.
“Perfection” ist das erste Wort in den Liner Notes, die Melody Gardot für “Live in Europe” verfasst hat. Der Text handelt von der menschlichen Suche nach einer unerreichbaren Perfektion, und auch von dem Phänomen, sie oft erst sehr spät zu entdecken. Als Beleg dafür dienen ihr beispielsweise der späte Erfolg eines Pop-Songs wie “Melody Nelson” oder die rückschauende Anerkennung für ein Auto wie die 1963er Corvette aus dem Hause Chevrolet. Diese Suche nach Perfektion hat sie offenbar beim Kompilieren ihres ersten Live-Albums begleitet, sie nennt ihre nun erscheinende Doppel-CD mit ausgewählten Liveaufnahmen aus dreihundert Konzerten aus den Jahren 2012 bis 2016 einen Blick in den “Rückspiegel der 63er Corvette”, wobei sie völlig offenlässt, ob sie wirklich Perfektion gefunden hat. Oder etwas ganz anderes?
Die fünfzehn Mitschnitte aus Paris, London, Wien, Bergen, Amsterdam, Frankfurt, Barcelona, Lissabon, Zürich und Utrecht ergeben dabei viel mehr als nur ein “Best of”. Erkennt man sehr wohl die angesprochene Suche nach Perfektion in den ersten beiden Stücken, ihren Hits “Our Love Is Easy” und “Baby I’m A Fool”, und sucht man dort vergeblich die perfekte Unvollkommenheit, die Live-Konzerte so lebendig machen, bricht der Damm spätestens mit der elfminütigen Version von “The Rain”. Irgendwo zwischen Garbarek und Molvaer wirbelt die Energie dieses Regentanzes, den Melody einst mit Jesse Harris für ein Album namens “My One And Only Thrill” geschrieben hat. “Deep Within The Corners Of My Mind” fließt anschließend wie Honig aus den Lautsprechern und ihre wunderbaren Ansagen und Animationen an das Publikum der portugiesischen Hauptstadt “Lisboa” wirken gleichzeitig authentisch und herzlich.
Dass Melody Gardot im weltweiten Jazz-Geschehen mitunter sehr als Paradiesvogel erscheint, angefangen mit dramatischen Details ihrer Biografie wie einem Verkehrsunfall als Auslöser der musikalischen Karriere, dem jahrelang auf Konzerten getragenen Gehstock, sowie ihrer Phrasierung und Aussprache zwischen Eartha Kitt und Scott Walker, schmälert insbesondere auch auf Disc 2 absolut nicht den Genuss. Der zweite Live-Satz beginnt mit einem Monolog in London, bei dem sie zuerst als Eartha Kitt einen eben verendeten Gitarrenverstärker betrauert, um gleich darauf in einen Cockney-Dialog mit einem der Zuhörer zu treten. Sie entschuldigt sich umgehend für ihren schlechten britischen Akzent und kann das folgende “Baby I’m A Fool” vor Lachen kaum starten. Später, beim “March for Mingus” gehen Melody und ihre Band dann so aus sich und der Komposition heraus, dass man es doch sehr bedauert, nicht dabei gewesen zu sein (es sei denn, man war es!). Ein tolles Live-Album, und schließlich so unvollkommen perfekt, wie man es sich nur wünschen kann.