Mit seinen nunmehr 36 Jahren hat sich Roy Hargrove längst als eine treibende Kraft in der zeitgenössischen Jazzszene etabliert. Seine Karriere begann er mit zwanzig Jahren noch als reiner Hard-Bop-Spieler. Viele Jazzfans dachten damals, daß Hargrove in die konservativen Fußstapfen seines einstigen Mentors Wynton Marsalis treten würde. Und zumindest in den ersten fünf Jahren sah es auch ganz danach aus. Dann scherte Roy Hargrove aus der vorgezeichneten Bahn aus und begann das musikalische Experimentieren.
Seit er 1993 zum Verve-Label stieß, hat er dort sechs Alben und eine EP vorgelegt, die seine stilistische Vielseitigkeit und Offenheit beweisen: “The Tenors Of Our Time” nahm er 1993 mit einigen der größten zeitgenössischen Tenorsaxophonisten (u.a. Branford Marsalis, Joshua Redman und Joe Henderson) auf; “Family” entstand 1995 mit einem Team aus “jungen Löwen” (u.a. Stephen Scott und Christian McBride) und “alten Hasen” (u.a. Jimmy Cobb, John Hicks und David “Fathead” Newman); das fetzige Cubop-Album “Habana” realisierte er 1997 mit seiner amerikanisch-kubanischen Band Crisol; “Moment To Moment” war ein balladeskes Standards-Album, das er 1999 mit einem Streichorchester aufnahm; und 2003 verblüffte er die Jazzwelt vollends, als er auf dem Album “Hard Groove” erstmals sein NeoSoul/HipHop/Jazz-Projekt RH Factor vorstellte.
Außer diesen vier Alben, die er unter seinem eigenen Namen aufnahm, gab es auch noch zwei Verve-Alben, bei denen Hargrove eine tragende Rolle spielte: Gemeinsam mit Bassist Christian McBride und Pianist Stephen Scott nahm er 1995 das Bebop-Album “Parker’s Mood” auf, eine außergewöhnliche Hommage an Charlie Parker, und Seite an Seite mit Herbie Hancock und Michael Brecker 2002 “Directions In Music – Live At Massey Hall”, einen noch brillanteren Tribut an Miles Davis und John Coltrane. Für das zuletzt genannte Album wie auch für “Habana” wurde Roy Hargrove mit jeweils einem Grammy prämiert. Vergangenes Jahr erschien schließlich noch “Strength”, eine mit RH Factor aufgenommene EP, die von der Laufzeit her (rund 45 Minuten) aber auch als normales Album hätte durchgehen können.
Dieses Jahr scheint Roy Hargrove endgültig beweisen zu wollen, daß in seiner Brust zwei unterschiedliche musikalische Seelen wohnen: eine, die die Jazztradition pflegt, und eine andere, die gerade mit dieser und anderen Traditionen bricht. Um dies zu zeigen, bringt der Trompeter jetzt zwei Alben heraus: Auf “Distractions” ist er zum nunmehr dritten Mal mit RH Factor zu hören und auf “Nothing Serious” (wird am 03.05.2006 bei JazzEcho vorgestellt) mit seinem lupenreinen Jazz spielenden Quintett plus Gaststar Slide Hampton.
"Seit ich mein letztes wirkliches Jazzalbum (gemeint ist “Moment To Moment” von 1999) aufgenommen habe, ist schon viel Zeit verstrichen", gesteht Hargrove freimütig. “Deshalb wollte ich jetzt unbedingt mal wieder eines vorlegen. Zur gleichen Zeit bat mich die französische Jazzabteilung von Universal aber auch, noch ein weiteres Album mit RH Factor aufzunehmen.” Da die amerikanischen Verve-Kollegen keine Einwände hatten, kann Roy Hargrove nun also zeitgleich zwei gänzlich verschiedene Alben lancieren.
Der Großteil der zwölf Songs des neuen RH Factor-Albums “Distractions” sind inspirierte, nachdenkliche Vokalnummern. Geradezu autobiographisch wirkt der extrem funkige Titel “A Place”, in dessen Refrain eine Frage auftaucht, die sich Hargrove wohl auch gestellt haben muß, als er das Projekt RH Factor ins Leben rief: “If I take you to a place I love / If I change my style / Would you like it?” Noch immer ist es für ihn eine große Herausforderung, die Kluft zwischen den beiden Musikrichtungen, die er gleichermaßen liebt, zu überbrücken. “Bei den Aufnahmen mit RH Factor war es immer mein Ziel, die Trennlinie zwischen Mainstream und Underground, zwischen geradlinigem Jazz und HipHop/Rhythm’n'Blues auszuradieren. Es gibt da einerseits Musiker, die sämtliche Theorien und Harmonien kennen. Und dann gibt es andere Musiker, die einen direkten Draht zum Massenpublikum haben und wissen, was dieses hören möchte. Ich dachte mir, wenn ich diese beiden Sorten Musiker zusammenbringen kann, könnte aus dieser Begegnung auch etwas Innovatives hervorgehen.”