Eingefleischte Jazzfans können unerbittlich sein, wenn es einer der Stars ihrer Szene wagt, einmal die Grenzlinie zur populären Musik zu überschreiten. Nur wenigen Jazzmusikern werden solche stilistischen Seitensprünge verziehen. Es sei denn, es gelingt ihnen das Kunststück, selbst bei solchen Abenteuern noch ihre musikalische Integrität zu wahren. Dem Trompeter Roy Hargrove ist dies bisher prächtig geglückt: die groovigen Experimente, die er zwischen 2003 und 2006 mit seinem Projekt RH Factor unternahm, wurden vom Großteil der Jazzfans und -kritiker sogar in seltener Einmütigkeit gefeiert. So wie auch die anschließenden Alben, mit denen der Trompeter wieder in den Schoß des eher konventionelleren Jazz zurückkehrte. Besondere Begeisterung löst Hargrove 2008 mit seinem Quintett Earfood aus, mit dem er damals ein Studioalbum gleichen Namens aufnahm, das in den Jahresbestenlisten internationaler Jazzkritiker auf den vordersten Plätzen rangierte. Nun legt der smarte Texaner auf einer DVD einen über zweieinhalbstündigen Mitschnitt von Auftritten vor, die er mit dem Earfood-Quintett im April 2008 im Pariser Jazzclub New Morning absolvierte. Begleitet wird er auf “Live At The New Morning” von Justin Robinson (Altsax & Flöte), Gerald Clayton (Piano), Danton Boller (Bass) und Montez Coleman (Schlagzeug).
Das Repertoire, das Hargrove bei seinem brillanten Auftrittt in Paris spielte, setzte sich vor allem aus dem Material zusammen, das er zuvor bereits im Studio für “Earfood” und ein weiteres Quintett-Album mit dem Titel “Nothing Serious” (2006) aufgenommen hatte. Ergänzt wurden diese Stücke – die größtenteils Eigenkompositionen des Trompeters sind, aber auch Kurt Weills traumhafte Ballade “Speak Low” und das mitreißende afro-kubanische “Nothing Serious” des Salsero Leo Quintero umfassen – durch ein paar weitere neue und alte Nummern aus Hargroves Fundus.
“Der geschlossene Klang der Band ist ein Resultat unserer ständigen Tourneen, bei denen wir uns auf und fernab der Bühne richtig kennengelernt haben”, meint der Bandleader stolz. Dass er die Partner seines hervorragend interagierende Quintetts dann wenig später auch zum Nukleus der Roy Hargrove Big Band machte, verwundert einen nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass diese Big Band letztes Jahr für ihr Album “Emergence” weltweit begeistert gefeiert wurde. Die atemberaubende Performance auf “Live At The New Morning” macht einmal mehr deutlich, dass sich Jazzfans keine Sorgen zu machen brauchen, sollte Roy Hargrove mal wieder einen Seitensprung unternehmen. Seine Liebe zum wahren Jazz leidet unter solchen gelegentlichen Ausflügen in andere musikalische Lager ganz offensichtlich nicht.