“Ich wurde schon immer vom Mondlicht inspiriert”, sagt Stephan Micus. “Oft gehe ich bei Mondlicht spazieren, im Meer schwimmen oder mache, das ist das Beste überhaupt, Cross-Country-Skilanglauf, wenn der Mond den Schnee in Millionen von Diamanten verwandelt. Der Mondschein verfügt für mich über eine besondere Magie.”
Stephan Micus hat eine starke und physische Beziehung zu Natur, Landschaften und den Menschen, die sie bewohnen, auf der ganzen Welt. Das hört man auch seiner Musik an, die für Instrumente geschaffen wird, die er in jahrelangen Reisen gesammelt und für seine eigenen Zwecke umgestaltet hat. Er spielt alle Instrumente selbst und nimmt sie – wie bei “Fireflies” auf diesem Album – im Mehrspurverfahren auf bis zu 22 Spuren auf. Am anderen Ende des Spektrums stehen wiederum die Solostücke “The Moon” und “All The Way” Solostücke, die in einem einzigen Take aufgenommen wurden.
Auf “White Night”, seinem 23. Soloalbum für ECM, nimmt uns Micus auf eine Reise in eine imaginäre Welt mit, die bei “The Eastern Gate” beginnt und bei “The Western Gate” endet. Zwischen diesen Toren offenbaren sich die verschiedenen Szenen der Kompositionen: “The Bridge”, “The River”, “The Moon” und so fort. Um diese Welt heraufzubeschwören, spielt Micus neben seiner 14-saitigen Gitarre noch Instrumente aus Armenien, Tibet, Indien, Ägypten, Ghana, Senegal, Tansania, Botswana, Namibia und Äthiopien, die meisten davon in noch nie zuvor gehörten Kombinationen.
Für jedes seiner Alben verwendet Micus eine bestimmte Instrumentenbesetzung, um eine unverwechselbare Klangwelt zu schaffen. Die Hauptakteure auf “White Night” sind afrikanische Daumenklaviere (Kalimbas) und die armenische Duduk, zwei Instrumente, die sich in ihrer Persönlichkeit stark voneinander unterscheiden. Die Duduk verström immer einen Hauch von Melancholie, während die Kalimba von einem Geist der Freude erfüllt ist. Die Kombination dieser beiden Instrumente ist wie das Zusammenbringen von zwei unversöhnlichen Geistern.
Die Kalimba gehört zur Familie der Lamellophone und hat Metallzungen, die auf einem Resonanzkörper befestigt sind. In den verschiedenen Gegenden des subsaharischen Afrika ist das Instrument unter einer Reihe von Namen bekannt: u.a. Mbira, Zanza, Kadongo, Likembe und Ndingo. Micus verwendet hier Instrumente, die er in Tansania, Botswana, Namibia und Äthiopien gesammelt hat. “Das sind alte und einzigartige Instrumente”, sagt er. “Die meisten von ihnen habe ich in abgelegenen Dörfern gefunden und so hat jedes seine eigene Geschichte, die mit den Menschen, die ich dort traf, und den Landschaften verknüpft ist. Und diese Erinnerungen helfen mir, die Musik für sie zu kreieren. Das ist etwas, was ein im Laden gekauftes Instrument einem nie ermöglichen könnte. Meist ändere ich die Stimmungen entsprechend der Musik, die sich entwickelt, wenn ich anfange, auf ihnen zu improvisieren. Meine erste Kalimba kaufte ich vor 26 Jahren in Tansania.”
“Wenn ich auf Reise gehe, nehme ich immer eine Kalimba mit. Es ist ein so großartiges Instrument zum Mitnehmen”, sagt Micus, der eine praktische Beziehung zu seinen Instrumenten hat. “Es ist klein und stört niemanden. Das ermöglicht mir, an einigen Melodien und Rhythmen weiterzuarbeiten, selbst wenn ich unterwegs bin.”
Eines der zentralen Stücke des Albums ist die Solonummer “All The Way”, die Micus in einem Take auf einer Kalimba mit 22 Lamellen eingespielt hat. Das Instrument erstand er in einem Dorf in Botswana, das von der ethnischen Minderheitengruppe der San bevölkert ist, die ursprünglich als reine Jäger und Sammler lebten.
“Ich bewundere die Art und Weise, wie die San Jahrtausende lang auf dem Land lebten, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen oder ihm Schaden zuzufügen, genau wie die australischen oder nordamerikanischen Ureinwohner. Aber seltsamerweise haben die Leute immer auf diese Menschen herabgesehen, obwohl wir sie für diese große Leistung wirklich ehren sollten.” Dieses Kalimba-Solo ist eine Hommage an all jene Menschen, die unseren Planeten respektieren und seine unglaubliche Schönheit bewahren. Eine weitere Kalimba aus Tansania, die Micus in “The River” verwendet, hat kleine Ringe auf den Lamellen, die ein sirrendes Geräusch wie Wellen und Spritzer im Wasser erzeugen.
In “The Bridge” und “The Forest” benutzt Micus eine speziell für dieses Album entwickelte Kalimba. Er beauftragte den südafrikanischen Instrumentenbauer Phillip Nangle damit, ein Instrument anzufertigen, das anstelle der üblichen Stahllamellen, welche aus Bronze hat. Bronze erzeugt einen wärmeren, weicheren Klang, der hervorragend zur Begleitung von Micus’ Stimme passt, mit der er einen Text in einer erfundenen Sprache singt.
Um die Duduk – ein klagendes, oboenartiges Instrument, das einem Großteil der armenischen Musik seinen melancholischen Ton verleiht – spielen zu lernen, unternahm Micus zwei Reisen nach Armenien. Das erste Mal studierte er bei Djivan Gasparyan, beim zweiten Besuch bei Gevorg Dabaghyan. Beide sind Musiker, die von vielen als die größten lebenden Meister dieses Instruments angesehen werden. Micus verwendete die Duduk schon auf zwei früheren Alben: “Towards The Wind” (2002) und “Snow” (2008). Traditionell wird die Bassduduk nur als begleitendes Borduninstrument verwendet, auf dem nur ein oder zwei Töne gespielt werden. Aber im ersten und letzten Stück von “White Night” setzt Micus es für gefühlvolle Melodien ein, die seine Geschichte mit Themen von großer Tiefe umrahmen. Eine so tief klingende Duduk hat man wohl noch nie zuvor gehört.
Das andere Herzstück des Albums ist “The Moon”, dass er auf einer Duduk spielt, die sehr viel kleiner ist als das Standardinstrument. Die Komposition hat nichts mit traditioneller armenischer Musik gemein, beschwört aber ganz sicher Bilder vom einsamen, nebligen und ätherischen Schimmer des Mondes am Nachthimmel herauf.
In den Booklets zu seinen CDs präsentiert Micus oft einen kleinen Text, der die jeweilige Stimmung des Albums intensivieren soll. Für “White Night” wählte er ein japanisches Gedicht von einem unbekannten Urheber, dessen Vers über den bezaubernden Vogelgesang in der weißen, mondhellen Nacht er in den Stück “The Poet” rezitiert: “Though the purity of the moonlight has silenced both nightingale and cricket, the cuckoo alone sings all the white night.”
Zu den anderen bemerkenswerten Instrumenten, die man auf diesem Album hören kann, gehören die im Mehrspurverfahren aufgenommenen indischen Rohrpfeifen, die in “Fireflies” abwechselnd mit einem Chor erklingen, den Micus mit seiner eigene Stimme gebildet hat. “Es sind einfache Rohrflöten, die man wie eine Blockflöte spielt. Ich habe sie irgendwo auf der Straße für ein paar Cent pro Stück gekauft.” Und dann sind da auch noch die tibetischen Becken, die Micus in Ladakh erwarb. Es sind rituelle Tempelinstrumente, deren klirrende Rhythmen dem Auftakt und Abschluss dieses Albums einen zeremoniellen Anstrich verleihen.
Dies erinnert einen daran, dass die Musik von Stephan Micus eine Tiefe besitzt, die sie mit Kulturen auf der ganzen Welt und deren musikalischen Ausdrucksweisen verbindet. Für ihn – so sagt er – macht es keinen Sinn, die armenische Duduk auf traditionelle Weise zu spielen. Sein Wunsch ist es, den Hörer auf eine Reise mitzunehmen. Dabei verwendet er seltene und obskure Instrumente, die er auf neuartige Weise kombiniert, um unsere universellen Emotionen zu erreichen.
“Heutzutage haben die Menschen in den Städten den Kontakt zum Mond verloren”, sagt Micus. “Ich habe mein ganzes Leben lang auf dem Land gelebt und hatte das Privileg, viele Nächte unter dem Vollmond zu verbringen. Deshalb widme ich dieses Album dem Mond, der in vielen Kulturen schon immer eine Quelle der Magie war. Auch die Musik ist eine Quelle der Magie. Und das ist, was beide in meinen Augen miteinander verbindet.”