Auf seinem neuen Album “To The Rising Moon” lässt der Multiinstrument Stephan Micus fast ausschließlich Saiteninstrumente verschiedenster Kulturen erklingen, gezupfte ebenso wie gestrichene. Hauptakteur ist diesmal die kolumbianische Tiple.
Stephan Micus(c) Michael Martin
14.11.2024
Man könnte meinen, dass Stephan Micus nach 25 Soloalben für ECM (plus zwei weiteren für andere Labels) langsam die exotischen Instrumente ausgehen, die er seinem Publikum noch vorstellen kann. Doch weit gefehlt! Auf “To The Rising Moon”, seinem neuen Album für das Münchner Label, wartet der gebürtige Stuttgarter wieder mit einer Instrumenten-Premiere auf. Denn im Mittelpunkt des Albums steht diesmal die kolumbianische Tiple, eine Kastenhalslaute, die etwas kleiner ist als eine herkömmliche Akustikgitarre. Darüber hinaus spielt Stephan Micus hier aber auch Instrumente aus Indien, der autonomen Region Xinjiang in China, Kambodscha, Ägypten, Borneo und Bayern.
Die Tiple gilt als das Nationalinstrument Kolumbiens. Obwohl sie in ihrem traditionellen, stark europäisch geprägten Kontext immer noch häufig gespielt wird, machen moderne Komponisten kaum Gebrauch von ihr. “Für mich hat dieses Instrument die Qualität von Licht, von etwas Glitzerndem”, sagt Stephan Micus. “Es ist, als würden diese Metallsaiten funkeln, und für mich strahlen die mit der Tiple gespielten Stücke eine sehr positive Energie aus,” Das Instrument besitzt vier Chöre mit je drei Stahlsaiten. Und in dem Stück “To The Rising Sun”, mit dem Micus das Album eröffnet, sind gleich zwei Tiples mit hell klingenden Saiten zu hören.
“Ich war schon dreimal in Kolumbien”, erzählt Stephan Micus,"und ich liebe die Bücher von Gabriel García Márquez, besonders ‘Die Liebe in den Zeiten der Cholera’. Bei meiner ersten Reise wollte ich vor allem versuchen, die längst vergangene Welt dieses Buches zu erleben. Also besuchte ich die am Unterlauf des Río Magdalena gelegene Stadt Mompós. Ein Freund von mir hatte diese Tiple, die er mir lieh, und ich verliebte mich sofort in sie. Jeder, der Gitarre spielt, kann auch etwas auf der Tiple machen." 2017 ließ sich Stephan eine von Orlando Pimentel anfertigen, einem der führenden Tiple-Hersteller. Und hier lässt er das Instrument nun zum ersten Mal auf einer seiner Aufnahmen erklingen.
Auf dem Album wechseln sich Stücke, die Micus auf der gezupften Tiple spielt, mit besinnlicheren Stücken ab, bei denen er zu Streichinstrumenten greift. Das erste davon ist “Dream Within Dream”. Stephan ist hier mit sechs Dilrubas zu hören, einem südasiatischen Streichinstrument, das er sehr lyrisch und ähnlich wie ein Cello klingen lässt. “Man wird in Indien keine Dilruba mit einem solchen Klang hören. Ich habe ihn erst nach langem Experimentieren mit alternativen Besaitungen gefunden . Ich bevorzuge immer tiefere Klänge - deshalb habe ich Instrumentenbauer damit beauftragt, für mich tiefer klingende Varianten der marokkanischen Genbri, der japanischen Shakuhachi und des armenischen Duduk anzufertigen.”
Stephan Micus spielt auf “To The Rising Moon” nicht nur Instrumente, sondern setzt auch seine Stimme wie ein Instrument ein. Er singt keine Worte, sondern improvisierte Silben, die nur für ihren Klang da sind. In dem Stück “In Your Eyes”, das die Stimmung eines poetischen Liebesliedes hat, verbindet er seine Stimme mit dem Klang dreier Tiples.
Das nächste Stück, das er für ein Streichinstrument komponiert hat, ist “The Veil”. Um die Zartheit eines Schleiers besser in Töne fassen zu können, greift Micus hier zu einem Instrument, das wesentlich leichter und filigraner klingt als die Dilruba: die uigurische Satar. Die Satar ist ein langhalsiges Streichinstrument mit einer Spiel- und vielen Resonanzsaiten. Die drei Satars erzeugen einen wunderbar transparenten Klang, der etwas Andächtiges hat. Stephan Micus ist wahrscheinlich der einzige westliche Komponist, der dieses Instrument häufig verwendet.
“Unexpected Joy”, für zwei Tiples geschrieben, ist leicht und sanft und scheint auf Motive des Eröffnungsstückes zu verweisen.
“Waiting For The Nightingale” ist das Herzstück des Albums und das erste von zwei Stücken, in denen Holzbläser und Streicher kombiniert werden, wobei die kambodschanischen Flöten eher im Hintergrund stehen. Das Stück hat etwas sehr Erhabenes und Ehrfurchtgebietendes, besonders mit dem Chor der Stimmen. Vielleicht könnte man es als eine Hymne an die Natur betrachten. “Ich habe dieses Bild vor Augen, wie ich im Frühling im Garten stehe und darauf warte, dass die Nachtigall singt. Nur für zwei Augenblicke treten die Flöten in den Vordergrund, und es ist, als ob die Nachtigallen erscheinen.”
Das Wechselspiel zwischen Kompositionen, die auf der Tiple oder Streichinstrumenten gespielt werden, setzt sich in den folgenden vier Stücken fort. In “The Silver Fan” hört man ein delikates Tiple-Solo, wie man es von einem kolumbianischen Spieler nicht kennt. Micus lässt hier einzelne Töne wie im sanften Licht eines Spätnachmittags funkeln. Der abschließende Tusch klingt, als würde der silberne Ventilator abrupt abgeschaltet.
In “Embracing Mysteries” sind wieder die tiefen, celloartigen Klänge der Dilruba zu hören, diesmal begleitet von der Sapeh aus Borneo. Normalerweise wird die Sapeh gezupft, doch Stephan Micus hat einen neuartigen Steg konstruiert, der es ihm ermöglicht, das Instrument mit einem Bogen zu spielen. Dann tritt seine Stimme in eine Art Dialog mit der Dilruba.
Bei “To The Lilies In The Fields” kommen wieder zwei Tiples zum Einsatz, diesmal eher meditativ in einer Art Lamento. Im vorletzten Stück, “The Flame”, beschwören die Streichinstrumente so etwas wie die Heiligkeit einer romanischen Kirche voller Kerzen herauf. Hier spielt Micus auch Tischharfen, ein zeitgenössischeres Instrument, das er zuletzt 1978 auf seinem Album “Till The End Of Time” verwendet hat. “Es hat 46 Jahre Pause gemacht, aber ich fand die Kombination mit der Satar besonders zufriedenstellend, da beide Instrumente Metallsaiten haben.”
Erst im letzten Stück, “To the Rising Moon”, kommen die beiden Welten der gezupften Tiples und der gestrichenen Saiten endlich zusammen. Es ist wie eine Hymne an etwas, das auf immer da oben am Nachthimmel steht, etwas Beständiges, während es in der Welt hier unten so viele Turbulenzen gibt.
“Thunder”, das vorangegangene Album von Stephan Micus, war eine Hommage an die Donnergötter der Welt und hatte als Hauptinstrument die mächtige, vier Meter lange tibetanische Dungchen-Trompete. Der Kontrast zwischen der kosmischen Wucht jenes Albums und der zarten Intimität der gezupften und gestrichenen Saiten dieses Albums macht deutlich, warum Micus über fast 50 Jahren hinweg ein so breites Spektrum an Musik geschaffen hat.