Susanne Abbuehl | Musik | April

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April
VÖ: 02. Oktober 2001
Susanne Abbuehl

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“Eines Tages war da ein Klang in der Luft, so als ob zwei oder drei oder vier Wolken miteinander flüsterten; und dieser Klang kam näher und näher an das Haus heran, bis das Haus erkannte, daß es die Flügel von jemandem waren, der flog und flog und flog. Kurze Zeit darauf hörte das Haus einen neuen Klang, und dieser Klang wurde immer höher und klarer, bis das Haus erkannte, daß es jemand war, der sang und sang und sang.”
E.E. Cummings, Märchen

“April” macht uns ebenfalls mit einem neuen, in der Luft schwebenden Klang bekannt. Der Klang stammt von Susanne Abbuehl, die mit diesem Album ihr ECM-Debüt gibt. Zweifellos ein markantes Debütalbum, für das die junge Schweizer Künstlerin einerseits Gedichte von Edward Estlin Cummings vertonte und andererseits eigene Texte zu Kompositionen von Carla Bley schrieb. Außerdem überrascht die Sängerin mit einer radikalen Neuinterpretation von Thelonious Monks unverwüstlichem Klassiker “Round Midnight”, führt neue, gemeinsam mit ihrem Keyboarder Wolfert Brederode verfaßte Stücke auf und beschließt das Album mit einem aufregenden Arrangement hindustanischer Vokalmusik. Dieser letzte Schritt scheint nur auf den ersten Blick eine Abschweifung zu sein. Tatsächlich macht die Interpretation von “Mane na” nur deutlich, was man vorher zumindest schon geahnt haben dürfte: Daß Susanne Abbuehl eine Sängerin ist, deren Werk nicht allein von der Jazztradition geprägt wird.

Abbuehl, Bley, Cummings… so lautet das faszinierende ABC des ersten international veröffentlichten Albums der Sängerin. Zuvor war 1997 in der Schweiz (ihrer eigentlichen Heimat) und in Holland (wo sie seit geraumer Zeit lebt) die in Eigenregie produzierte Platte “I Am Rose” erschienen. Das Album, das neben Werken von Abbuehl die Vertonung eines Gertrud Stein-Poems sowie Kompositionen von Ornette Coleman und Carla Bley enthielt, fand bei den Printmedien und einigen Radiosendern großen Anklang.

Susanne Abbuehl wurde in Bern geboren. Von klein auf fühlte sie sich zur Musik hingezogen. Schon als Kind schrieb sie eigene Stücke und im Alter von sieben Jahren begann sie Cembalo zu spielen. Mit 17 Jahren nahm sie an einem Schüleraustauschprogramm teil und gelangte so nach Los Angeles, wo sie Gesang studierte und als Mitglied eines Jazzensembles durch die USA und Kanada tourte. Nach ihrer Rückkehr nach Europa setzte sie ihre Jazz- und Gesangsstudien am Königlichen Konservatorium in Den Haag fort.

Unterrichtet wurde sie dort u.a. von der am 25. Oktober 2000 verstorbenen Jeanne Lee. Die amerikanische Sängerin, die mit dem deutschen Free Jazzer Gunter Hampel verheiratet war und zusammenarbeitete, war vor allem als Pionierin freier Jazzvokaltechniken bekannt geworden, beherrschte aber ebenso perfekt das Repertoire traditioneller Jazzstandards und kannte sich zudem blendend auf dem Gebiet der afrikanischen Musik und des Blues aus. “Von allen Sängerinnen ist Jeanne Lee mit Abstand diejenige, die mich am meisten beeinflußt hat”, meint Susanne Abbuehl.

Die beiden lernten sich 1992 beim Jazzfestival in Willisau persönlich kennen. Mit der Musik von Jeanne Lee war Susanne Abbuehl allerdings schon lange vorher vertraut. Ein Jahr nach dem Kennenlernen teilte Abbuehl Lee mit, daß am Den Haager Konservatorium eine Dozentenstelle für Jazzgesang frei sei. Die Amerikanerin erhielt den Job und wurde so zu Abbuehls Lehrerin. “Sie unterrichtete auf sehr intuitive Art und zeigte, wie bei allen anderen Dingen, die sie tat, ihre ?innere Qualität'”, erinnert sich Abbuehl. “Sie arbeitete oft mit Archie Shepp, Ran Blake und Mal Waldron, sie sang Standards und Avantgarde-Musik, sie integrierte in ihre musikalischen Projekte Poesie und Tanz. Und stets spielten ihre inneren Qualitäten bei diesen Geschichten eine führende Rolle. Sie inspirierte mich und ermutigte mich dazu, an meinen eigenen inneren Qualitäten zu arbeiten, meinen eigenen Weg zu gehen. Völlig freimütig vermittelte sie einem alles, was sie wußte, und gab einem wertvolle Ratschläge. Für mich wurde sie so zur Mentorin. Und die Art und Weise, wie sie mit Texten umging, war für mich eine Offenbarung.” Nachdem sie eine Weile bei der Amerikanerin studiert hatte, wurde Susanne Abbuehl sogar Mitglied in Jeanne Lee’s Music and Dance Ensemble. Von Lee selbst sind diese Worte über Susanne Abbuehl überliefert: “Ich bin von der Wärme und Klarheit ihrer Stimme beeindruckt, aber auch von der Geschmackssicherheit, die sie beim Singen beweist. Susanne ist eine durch und durch musikalisch improvisierende Sängerin. Sie versteht es, Songs in einer einzigartigen und persönlichen Weise zu interpretieren.”

Eine Gelegenheit bei Indurama Srivastava in Amsterdam klassische nordindische Musik zu studieren, weckten bei der jungen Schweizer Sängerin das Interesse für ein völlig neues musikalisches Gebiet. Um tiefer in die Materie eindringen zu können, ging Susanne Abbuehl nach Bombay und ließ sich dort von der hindustanischen Meistersängerin Dr. Prabha Atre unterrichten. Noch heute reist sie regelmäßig nach Indien, um dort ihre Lehrerin zu besuchen. Mit sogenannter Weltmusik hat die Musik von “April” allerdings nichts gemein. Der Einfluß, den die Auseinandersetzung mit der klassischen nordindischen Musik auf Susanne Abbuehl ausgeübt hat, ist subtiler und manifestiert sich in der Phrasierungsweise der Sängerin. Die Sorgfalt, die sie jeder Phrase widmet, der Umgang mit Tönen und deren Formung – die Beschäftigung mit all diesen Dingen führt Abbuehl auf Erkenntinsse zurück, die ihr Prabha Atre vermittelte. “Ich bin in keinster Weise an irgendeiner Fusion von Jazz und indischer Musik interessiert”, stellt Susanne Abbuehl klar. “Es ist vielmehr so, daß ich neue musikalische Denkwege und Ausdrucksweisen entdeckt habe, die mich wirklich interessieren. Außerdem gibt es gewisse Parallelen zu bestimmten Spielarten des Jazz, etwa die zyklische Form, über die man improvisiert. Oder auch die Idee, daß eine Komposition durchaus ein Transportmittel für deine ganz persönlichen Gefühle sein kann.”

Susanne Abbuehl hat in Indien auch Konzerte mit ihrer eigenen Musik gegeben und ist dabei auf ein aufgeschlossenes Publikum gestoßen. “Sie zieht ihre Zuhörer in Bann”, stellte die “Times of India” in einer Konzertkritik fest. Ein Urteil, das Hörer ihres ersten ECM-Albums wohl bestätigen werden. “April” offenbart wahrhaftig eine beinahe hypnotische Verführungskraft.

Von zentraler Bedeutung sind auf “April” die Kompositionen Carla Bleys und die Gedichte E.E. Cummings' (1894–1962), für die sich Abbuehl schon seit langem begeistert. Bleys Musik, und ihre kaum übertreffbare lyrische Verdichtung, haben Abbuehls Kompositionen ebenfalls beeinflußt. Und es gibt auf “April” Momente, in denen man sich an die Art und Weise erinnert fühlt, in der das Jimmy Giuffre Trio der ganz frühen 60er Jahre einst die Stücke von Carla Bley spielte. Die Sängerin bekennt sich zu diesem Einfluß: “Ich liebe die frühen Platten von Jimmy Giuffre. Sie klingen immer noch sehr zeitgemäß, und auch die ganzen Interaktionen sowie die Klangbildung sind nach wie vor modern.”

Bley und Cummings haben etwas gemein: Den Sinn für künstlerische Unabhängigkeit, die Art, wie sie – erfolgreich – gegen den Strom schwimmen. Cummings sagte einst: “In einer Welt, die Tag und Nacht alles unternimmt, um mich so zu machen wie alle anderen, bedeutet mein Streben danach, niemand anders als ich selbst zu sein, den härtesten Kampf auszufechten, den ein menschliches Wesen ausfechten kann, und diesen Kampf nie aufzugeben.” Dies könnte auch ein Motto von Carla Bley sein. (Nebenbei bemerkt: Es gibt auch eine sehr reale Verbindung zwischen Bley und Cummings. Denn 1972 spielte Carla Bley John Cages Vertonung von E.E. Cummings “Forever And Sunsmell” ein.)

“Ich bin vor allem an sehr persönlichen Gedichten interessiert”, umreißt Abbuehl ihre poetischen Vorlieben. “Ich mag Robert Creeley, Robert Lax sowie Cummings und viele andere… ich bin stets auf der Suche nach sehr persönlichen, manchmal wirklich kurzen Gedichten und solchen, bei denen manches eher unterschwellig und zwischen den Zeilen versteckt gesagt wird und nicht klar und deutlich. Gedichte, deren Bedeutung erst dann wirklich rüberkommt, wenn man sie laut und sehr akzentuiert vorträgt.”

Die Gedichte von Cummings sind schon von einigen musikalischen Schwergewichten vertont worden, u.a. von Leonard Bernstein, Luciano Berio, Pierre Boulez, John Cage, Aaron Copland, David Diamond, Morton Feldman, Philip Glass und Ned Rorem. Auch Jazzmusiker haben schon hier und da Gedichte von Cummings vertont. Cummings liebte Jazz (zumindest den ganz frühen) ebenso wie Kubismus, Parodien und Krazy Kat-Comicstrips. Abbuehls Arrangements greifen Cummings' Verspieltheit, aber andererseits auch seine Traurigkeit auf. Und die junge Schweizerin holt mehr aus der Text-immanenten Rhythmik heraus als viele ihrer distinguierten Neue Musik-Zeitgenossen es je taten.

Einige der Carla Bley-Stücke – wie – “Ida Lupino”, “Closer” und “Seven” – sind mittlerweile so etwas wie moderne Standards. Abbuehl gibt diesen Stücken einen neuen Dreh. So machte sie beispielsweise aus “Ida Lupino” ein Kinderstück, d.h. sie gibt dem Song einen Text, der aus der Perspektive eines Kindes verfaßt wurde. Bei “Seven” wird eine Rezitation des Cummings-Gedichtes “somewhere i have never travelled, gladly beyond” wie ein Zwischenschnitt in das Stück eingefügt. “A.I.R. (All Indiia Radio)”, ein eher unbekannter Titel von dem Klassiker “Escalator Over The Hill”, der ursprünglich für die Desert Band mit dem Solisten Don Cherry geschrieben wurde, dient Abbuehl nun als Vehikel für ihre Vokalisen.

“Bei Carla entdeckte ich auch etwas, was ich schon bei Jeanne bemerkt hatte”, erzählt Susanne Abbuehl. “Ich stellte fest, daß Carlas Kompositionen einen sehr starken Kern haben, der bei jedweder Interpretation noch herauszuhören ist. Und trotzdem bieten einem die Kompositionen sehr viel Raum zur persönlichen Interpretation. Das Stück `A.I.R.`, das auf den ersten Blick wirklich eine ungewöhnliche Wahl ist, ist schon seit Ewigkeiten eines meiner Lieblingsstücke, nicht zuletzt wegen Don Cherrys Beitrag. Er war einer der Jazzkünstler, die ich am meisten mag.”

“Round Midnight” ist zweifellos einer der am häufigsten interpretierten Jazz-Evergreens aller Zeiten. Dennoch hat er nie so nackt und einsam geklungen wie hier, wo Abbuehls Stimme nur von Brederodes indischem Harmonium begleitet wird. (Das Harmonium spielt auf diesem Album eine bedeutende Rolle!)

Schließlich ist da noch Prabha Atres “Mane na”, dem Abbuehls Ensemble ein sehr freies Arrangement verpaßte, welches die essentiellen Merkmale einer mitternächtlichen Raga beibehält.
Alles in allem, ein absolut vielversprechendes Debüt.

Susanne Abbuehl lernte zwei ihrer Band-Mitglieder während des Studiums in Den Haag kennen; mittlerweile arbeiten sie schon seit acht Jahren miteinander. Der holländische Keyboarder Wolfert Brederode, der zusammen mit Abbuehl drei der Stücke von “April” komponierte, hat am Königlichen Konservatorium in Den Haag Jazz und klassisches Piano studiert. In Europa wurde er durch Auftritte mit dem Wolfert Brederode/Erik Ineke Quintet, dem Wolfert Brederode Trio, dem Arnulf Ochs Quartet und der Jeroen Pek Band sowie durch seine Zusammenarbeit mit Ack van Rooyen, Tony Lakatos, Dave Liebman und Rachel Gould bekannt. Seit ihm Susanne 1997 ein indisches Harmonium aus Bombay mitbrachte, setzt er dieses exotische Instrument in der Band von Abbuehl neben dem Klavier ein.

Wie Abbuehl und Brederode absolvierte auch der deutsche Klarinettist und Saxophonist Christof May sein Musikstudium (Jazz und klassisches Saxophon) am Den Haager Konservatorium. Zur Zeit studiert er dort noch klassische Klarinette und Baßklarinette, wird aber schon bald seinen Abschluß in der Zweitdisziplin machen. Er hat sich auf Klarinetten-Werke des 20. Jahrhunderts spezialisiert, mit einem besonderen Interesse für Solo-Werke. May ist schon mit Kammermusikensembles wie M.use aufgetreten, hat Werke von György Kurtág, Isak Goldschneider und Panaiotis Leftheris aufgeführt und unter der Leitung von u.a. Reinbert de Leeuw und Kevin John Edusei gearbeitet. Neben der Klassik und dem Jazz hat ihn aber auch die bulgarische Volksmusik beeinflußt. Christof May hat bereits mit modernen Tanzensembles zusammengearbeitet, Theatermusik gespielt sowie mit diversen Gruppen Auftritte absolviert und Platteneinspielungen gemacht.

Der Schweizer Percussionist Samuel Rohrer stieß erst 1999 zu Susanne Abbuehls Band. Rohrer studierte an der Swiss Jazz School in Bern und am Berklee College of Music in Boston Schlagzeug. In Europa trat er schon mit dem Patrick Muller Trio, dem Donat Fisch-Samuel Rohrer Quartet, Flischs News (mit Raetus Flisch und Christoph Grab) und dem Lars Lindvall Quartet/Tentet auf. Außerdem arbeitete er schon mit Erik Truffaz, Malcolm Braff, John Voirol und Hal Crook.

Musiker: Susanne Abbuehl – voice / Wolfert Brederode – piano, harmonium & melodica / Christof May – clarinet & bass clarinet / Samuel Rohrer – drums & percussion
Veröffentlichung
2.10.2001
Format
CD
Label
ECM Records
Bestellnummer
00044001399923

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