Wie sein frühes Vorbild Miles Davis hat auch der polnische Trompeter Tomasz Stanko eine Begabung dafür, spezielle Bands zu formieren – und sein neues New York Quartet ist besonders vielversprechend. Das Rhythmusgespann aus Bassist Thomas Morgan und Schlagzeuger Gerald Cleaver ist eines der einfühlsamsten in der heutigen improvisierten Musik.
Der auf Kuba geborene Pianist David Virelles (den man auch auf Saxophonist Chris Potters parallel erscheinenden, ersten ECM-Album “The Sirens” erleben kann) besitzt feine Antennen für das dunkle Brüten in Stankos freien Balladen und reflektiert in seinem Spiel, so Stanko, auch die “afrikanischen Wurzeln des Jazz und südamerikanische Melancholie”. Doch inspiriert ist dieses Doppelalbum voll neuer Stanko-Kompositionen vor allem von den Gedichten der 2012 verstorbenen polnischen Literatur-Nobelpreisträgerin Wislawa Symborska.
Seit fünf Jahren besitzt Tomasz Stanko ein Apartment in New York und pendelt seitdem zwischen seinem polnischen Wohnort Warschau und dem Big Apple hin und her. “Ursprünglich wollte ich einfach nur die Stadt genießen, in der Jazz seit jeher von so enormer Bedeutung ist”, verrät Stanko. “New York ist nach wie vor die wichtigste Jazzstadt der Welt. Es ist die Stadt, in der Charlie Parker, Miles Davis und Duke Ellington großartige Musik machten und in der ein Großteil der Jazzgeschichte geschrieben wurde…” Aber es dauert nicht lange, bis der Pole in die lokale Szene eintauchte und auf die Musiker stieß, die nun sein neues Quartett bilden.
Auf dem Debütalbum stellt Stanko mit seinem New York Quartet neue Kompositionen vor, zu denen ihn Werke der Lyrikerin Wislawa Symborska inspirierten. “Die Lektüre von Wislawa Symborskas Worten vermittelte mir viele Ideen und Einsichten”, merkt der Trompeter im Booklet der CD an. “Sie zu treffen und mich mit ihrer Poesie zu beschäftigen, gab mir den Anstoß zu dieser Musik, die ich nun respektvoll ihrem Andenken widmen möchte.” 2009 hatte die bereits hochbetagte Symborska in der Krakauer Oper aus ihren Werken gelesen, und Tomasz Stanko begleitete ihren Vortrag mit Improvisationen auf seiner Trompete. Einige der damals vorgetragenen Gedichte, vor allem aus Symborskas letztem Gedichtband “Tutaj – Hier”, haben Stankos Musik deutlich beeinflusst, bis hin zur Titelgebung der Stücke “Assassins”, “Mikrokosmos” und “Metafizyka”. “Faces” und “A Shaggy Vandal” basieren auf Symborskas Poem “Thoughts that visit me on busy streets”, einer ironischen Meditation über alte und neue Formen.
“Alte und neue Formen” könnte auch der Untertitel dieses Doppelalbums lauten. Das beseelte, freie Balladenspiel im Titelstück, das in zwei unterschiedlichen Versionen zum Auftakt und Abschluss des Albums geboten wird, hätte auch ebenso gut auf Stankos 1976 erschienenes ECM-Debütalbum “Balladyna” gepasst. In “Assassins” widerum überrascht einen der Trompeter, indem er eine luftig-boppige Melodie plötzlich in ein freies, kontrapunktisches Spiel mit enormem Drive, sehr vielen Details und strömender Energie münden lässt. Absolut meisterhaft gelingt Tomasz Stanko hier der Spagat zwischen Alt und Neu, zwischen Tradition und Innovation, zwischen Komposition und Improvisation.