Tomasz Stanko | News | Ein Charismatiker in bestechender Spiellaune

Ein Charismatiker in bestechender Spiellaune

“September Night” bietet eine bislang unveröffentlichte Live-Aufnahme des international gefeierten polnischen Tomasz Stańko Quartet, die im September 2004 in der Münchener Muffathalle mitgeschnitten wurde.
Tomasz Stanko
Tomasz Stanko Caroline Forbes / ECM Records
19.06.2024
Zum Zeitpunkt dieses hervorragend dokumentierten Auftritts befand sich das Quartett in einer Übergangsphase, in der es sich von den klaren Liedformen des Repertoires von “Suspended Night” zu lösen begann und in die freier improvisierten Bereiche vordrang, die es im folgenden Jahr auf seinem dritten ECM-Album “Lontano” ausgiebiger erkunden sollte.
Das Münchener Konzert war ein Höhepunkt in einem Jahr, in dem das Tomasz Stanko Quartet eine Rekordzahl von Auftritten absolvierte, mit ausgedehnten Tourneen durch die USA und Europa. Der große Trompeter selbst zeigt sich hier von seiner charismatischen Seite. Hörbar inspiriert von der dynamischen Unterstützung und kommunikativen Kraft seiner jungen Spielpartner, läuft Stanko zu absoluter Höchstform auf.

Die Zusammenarbeit mit Pianist Marcin Wasilewski, Bassist Sławomir Kurkiewicz und Schlagzeuger Michał Miśkiewicz verhalf Tomasz Stanko Anfang der Nullerjahre zu einem neuen Bekanntheitsgrad. Nach der Aufnahme von “Soul Of Things”, dem ersten ECM-Album des polnischen Quartetts, wurde der Trompeter 2002 mit dem European Jazz Prize ausgezeichnet. In der Jury-Begründung hieß es damals: “Obwohl Stanko sich offensichtlich an amerikanischen Vorbildern orientiert hat, entwickelte er einen einzigartigen Klang und eine persönliche Musik, die sofort erkennbar ist und zweifelsfrei seine ureigene Handschrift trägt. Es ist eine Musik, die in seinem slawischen Erbe, seiner romantischen Prägung und der klassischen Ausbildung verwurzelt ist, die er in Krakau erhielt, bevor er in den frühen 60er Jahren eine Jazzkarriere begann. Sein markanter, rauer Ton vermittelt ein Gefühl von Drama, Melancholie, Traurigkeit und existenziellem Schmerz. Der Pionier des Free Jazz entwickelte sich zu einem der besten Trompeter, einem Weltklassespieler, einem Stilisten, einem charismatischen Interpreten und originellen Komponisten, dessen Musik nun die Einfachheit der Form und die Altersmilde annimmt, die sich aus jahrelanger Arbeit, Erkundung und Erfahrung ergibt. Tomasz Stanko – ein wahrer Meister und eine Lichtgestalt des europäischen Jazz.” “Soul Of Things” selbst wurde im Dezember 2021 von Jazzwise in seine Liste mit “100 Jazzalben, die die Welt bewegten” aufgenommen.

“Mein größter Lehrer war natürlich Tomasz Stanko”, erinnerte sich der Pianist Marcin Wasilewski nach dem Tod des Trompeters im Jahr 2018. “Wir wuchsen an seiner Seite und er hatte ein Auge auf uns. Jedes Konzert, das wir mit ihm spielten, war wichtig – das wichtigste, fast so, als wäre es das letzte. Das ist die Herangehensweise, die er uns gelehrt hat: ‘Wenn du Musik machst, dann gib tausend Prozent!’”

Stanko hatte Wasilewski, Kurkiewicz und Miśkiewicz 1993 unter seine Fittiche genommen, als sie allesamt noch Teenager waren. Eine erste gemeinsame Aufnahme entstand 1994 unter dem Titel " Balladyna – Theater Play Compositions" für das polnische Label GOWI Records. Stankos “Mentoring”-Prozess fand hauptsächlich innerhalb der Musik selbst statt. “Tomasz hat nicht viel mit uns geredet”, erzählte Michał Miśkiewicz in einem Interview, das kürzlich in Modern Drummer veröffentlicht wurde. “Es ging immer darum, das zu spielen, was du fühlst. Das zeigt, was für eine Art von Künstler und Bandleader er war. Wir fühlten uns sehr frei, das zu tun, was wir tun. Er ging davon aus, dass wir es besser machen würden, wenn wir nicht vorher darüber reden würden, wie wir spielen sollten.”

Obwohl Stanko in seinen späteren Jahren mehrere starke Bands gleichzeitig unterhielt, erwies sich das polnische Quartett letztendlich als seine am längsten bestehende Formation – die Musiker hatten 1993 damit begonnnen,  zusammen zu spielen, und gaben ihr letztes gemeinsames Konzert 2017 in Warschau.

Das besondere musikalische Verständnis, das zwischen Stanko und Wasilewski herrschte, wurde in der Presse oft hervorgehoben. “Stankos enge Verbindung zu Wasilewski ist fast schon unheimlich”,  schrieb Alyn Shipton in der Times, “die beiden gehen quasi nahtlos von Passagen mit raffiniert komponierten Melodien zu freien Improvisation über die jeweiligen modalen Vamps der Stücke über.”

2004 hatten sich Pianist Marcin Wasilewski, Bassist Sławomir Kurkiewicz und Schlagzeuger Michał Miśkiewicz auch schon international einen hervorragenden Ruf als eigenständige Gruppe erspielt. Nachdem sie ein Jahrzehnt lang als Simple Acoustic Trio aufgetreten waren – die Band hatten sie als Teenager in Koszalin gegründet -, befanden sie sich gerade dabei, sich eine neue Identität als Marcin Wasilewski Trio zuzulegen und sich künstlerisch rasant weiterzuentwickeln. “In der gesamten Geschichte des polnischen Jazz haben wir noch nie eine Band wie diese gehabt”, erklärte Tomasz Stanko seinerzeit. “Diese Musiker überraschen mich jeden Tag aufs Neue. Sie werden einfach immer besser.”
Zu den jüngsten Veröffentlichungen des Marcin Wasilewski Trio gehören die Alben “En Attendant” und “Arctic Riff”. Letzteres entstand in Zusammenarbeit mit dem Saxofonisten Joe Lovano. Das Trio feiert derzeit sein dreißigjähriges Bestehen.
Das Münchener Konzert des Tomasz Stanko Quartet fand im September 2004 im Rahmen eines Symposiums für improvisierte Musik unter dem Titel “Unforeseen” statt. Kuratiert wurde es vom Münchener Kulturreferat gemeinsam mit dem Fachbereich Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität. Bei der Veranstaltung, die sich über eine ganze Woche erstreckte, wurden noch zwei weitere Konzerte für Live-Alben mitgeschnitten, die bereits bei ECM erschienen sind: Evan Parkers “Boustrophedon” und Roscoe Mitchells “Composition/Improvisation Nos. 1, 2 & 3”.

“September Night” wurde von Manfred Eicher produziert und von ihm zusammen mit Marcin Wasilewski und Stefano Amerio abgemischt. Auf Vinyl wird das Album aller Voraussicht nach am 5. Juli erscheinen.