Der polnische Trompeter Tomasz Stanko verfügt seit langem über eine der markantesten Stimmen des Jazz. Mit seinem körnigen Ton und den verwischten Noten ist er sofort identifizierbar.
Ungemein lyrische Improvisationen und schmachtende Themen sind für ihn ebenso charakteristisch wie die expressionistischen, noiresken Stimmungen, die er in seiner Musik oft heraufbeschwört.
Er ist ein Künstler, der sich viele Gedanken über Kontexte macht, und ein freizügiger Bandleader, der seine Mitspieler dazu ermuntert, sich selbst in seiner Welt der dunklen Melodik auszudrücken. “Er schreibt Melodien, die das Herz wie Nadeln durchstechen”, bemerkte die JazzTimes kürzlich, “aber er schreibt nicht wirklich Songs. Seine Stücke haben offene Formen, bestehen aus ein paar Konturen oder Gesten, die eine Stimmung vorgeben und Stanko in Bewegung setzen. Um sich braucht er dabei Musiker, die es verstehen, mit eigenständiger Kreativität auf seine einzigartigen Stimuli zu reagieren.” Die Mitglieder von Stankos New York Quartet erfüllen diesen Anspruch perfekt.
Vor rund zehn Jahren bezog Stanko ein Apartment in der Stadt, die für ihn immer noch die Welthauptstadt des Jazz ist und einst Tummelplatz für all seine frühen musikalischen Helden war: Monk, Miles, Coltrane und Cecil Taylor. Zuerst dachte er, dass ein Zufluchtsort in New York der ideale Platz sei, um Inspiration aufzusaugen und neue Musik zu schreiben. Aber es dauerte nicht lange, da tauschte er sich schon mit einigen der talentiertesten und kreativsten Musiker der Szene aus.
Dokumentiert wurden diese Aktivitäten erstmals auf dem Doppelalbum “Wislawa”, auf dem Stanko die erste Besetzung seines New York Quartet vorstellte. Die Veröffentlichung brachte ihm 2013 begeisterte Kritiken von der internationalen Presse ein. Der britische Guardian feierte “Wislawa” als “ein traumhaftes Treffen zwischen einer innovativen europäischen Legende und einem ebenso profiliertenTriumvirat von in New York lebenden wegweisenden Musikern.”
Auf “December Avenue” setzt das Quartett nun seine Geschichte fort. In der Besetzung hat es inzwischen eine Änderung gegeben: der neue Bassist Reuben Rogers stammt von der Jungferninsel St. Thomas und ist ECM-Hörern durch die Arbeiten mit Charles Lloyd (auf den Alben “Athens Concert”, “Rabo de Nube” und “Mirror”) sicher bestens bekannt. Er scheint sofort ein guten Draht zu dem kubanischen Pianisten David Virelles und dem Detroiter Schlagzeuger Gerald Cleaver gefunden zu haben und bereichert die kollektiven Improvisationen mit dem tänzerischen Elan seines Basses.
In seinem Spiel, so sagt Rogers, hat er sowohl einige der beschwingten Rhythmen der Calypso-Musik, die er als Kind gehört hat, verinnerlicht als auch die Inbrünstigkeit des Gospels. Reuben, der ein außergewöhnlich vielseitiger Improvisationskünstler ist, spielte Klarinette, Klavier, Schlagzeug und Gitarre, bevor er sich für den Bass entschied. Er weiß nicht nur, wie er die Musik vorantreiben kann, sondern steuert auch bezwingende melodische Ideen bei.
David Virelles wird allgemein als einer der originellsten Pianisten der Gegenwart gepriesen. In seinen perlenden Soli, die kubanische Rhythmen mit von Muhal Richard Abrams gelernten Lektionen kreuzt oder auf frühe Einflüsse von u.a. Andrew Hill und Bud Powell anspielen, spiegelt sich der Schmelztiegelcharakter von New York exemplarisch wider. Virelles hat bereits zwei eigene Alben bei ECM vorgelegt (“Mbókò” und “Antenna”) und arbeitet gerade an seinem dritten. Mit Chris Potters neuem Quartett hat er vor kurzem das Album “The Dreamer Is The Dream” eingespielt, das im April bei ECM erscheint.
Gerald Cleaver, der einer der einfallsreichsten zeitgenössischen Schlagzeuger ist, war erstmals vor zwanzig Jahren als Mitglied von Roscoe Mitchells Note Factory auf einem ECM-Album zu hören. Seitdem spielte er für das Label weitere Alben an der Seite von Miroslav Vitous, Michael Formanek und Craig Taborn ein. Zuletzt war er außerdem mit Giovanni Guidi, Gianluca Petrella und Louis Sclavis auf “Ida Lupino” zu hören. Cleaver wird im Frühling sowohl mit diesem Ensemble als auch mit Stanko auf Tournee gehen.