Trompeter Wynton Marsalis ist nicht gerade dafür bekannt, Experimenten außerhalb des traditionellen Jazz oder der klassischen Musik aufgeschlossen gegenüber zu stehen. Nun aber konnte ihn ein langjähriger Freund aus Spanien dazu motivieren, einmal über seinen Schatten zu springen und sich auf vollkommen neues Terrain zu begeben. Seit 1987 tritt Wynton mit schöner Regelmäßigkeit beim Jazzfestival im baskischen Vitoria-Gasteiz auf. Das brachte Iñaki Añua, den künstlerische Leiter des Festivals, auf die Idee, Wynton Marsalis einen Kompositionsauftrag zu erteilen. Añua wünschte sich einen schlichten Blues. Doch Wynton, der kein Freund halber Sachen ist, lieferte dem Auftraggeber gleich eine zwölfteilige Suite, in der er Elemente des Blues und Jazz mit jenen spanischer Musik kombinierte. Nun hat er seine “Vitoria Suite” mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra und spanischen Gästen für das gleichnamige Album eingespielt.
Die Suite ist ein wahres Opus magnum, das vom Komponisten nach dem zwölftaktigen Standard-Blues-Schema strukturiert wurde. Marsalis nutzt den Impuls des Blues als Fundament, um sich, von ihm ausgehend, parallel mit der Musik zweier Welten und zweier Kulturen auseinanderzusetzen: einerseits mit dem Jazz und Blues Nordamerikas und andererseits mit der traditionellen Musik des spanischen Baskenlands und dem Flamenco, der seine Wurzeln in Andalusien hat, aber schon seit langem das musikalische Aushängeschild ganz Spaniens ist. Doch auch andere stilistische Einflüsse spielen in diese Musik hinein: afrikanische, karibische und lateinamerikanische. Aber Wynton macht vor allem deutlich, wie viel die schwarze nordamerikanische Kultur und ihr spanisches Pendant gemein haben. “Für uns als Außenseiter ist es unmöglich, diese Musik auf dieselbe Weise zu spielen wie ein spanischer Musiker”, merkt Wynton an. “Darum habe ich stattdessen versucht, Elemente der Musik dieser Region aufzugreifen und sie in das Klangbild des Jazz zu übertragen.”
Die Suite dient jedoch nicht nur dazu, amerikanischen Musikern Gelegenheit zu geben, mit spanischen Musikformen zu experimentieren. Auf der Tagesordnung stand auch die Zusammenarbeit mit führenden spanischen Musikern wie dem legendären Flamenco-Gitarristen Paco de Lucía und dem brillanten Pianisten Chano Domínguez. Für Paco de Lucía ist dabei ein Wunsch in Erfüllung gegangen. “Ich hatte Wynton einmal gesagt, dass ich gerne als Solist mit einer Jazzbigband wie seiner spielen würde”, erzählt Paco de Lucía, “und er meinte gleich: ‘Ich stelle sie dir jederzeit zur Verfügung!’” Jetzt war die Gelegenheit dazu gekommen und de Lucía gerät ins Schwärmen, wenn man ihn auf die Erfahrung anspricht: “Jedes mal, wenn ich diese Suite höre, entdecke ich in ihr etwas Neues, neue Details, Schattierungen und Nuancen. In diese Suite kann man sich stundenlang versenken – sie bietet einem so viel für Herz und Seele, für alle Gefühle und Sinne. Und genau dafür sind Musiker da, den Leuten so etwas zu bieten.”