Auf seinem neuen Album “Gnosis” betrachtet der in Santiago de Cuba aufgewachsene und heute in New York lebende Pianist und Komponist David Virelles einen Schmelztiegel aus dem Blickwinkel eines anderen. “Gnosis” ist einerseits ein autobiographisches Album, eine Sequenz von Bildern, die durch Klang vermittelt werden, und andererseits ein weitreichendes Werk mit tiefgreifenden Wurzeln. Es geht hier unter anderem um Transkulturation und Traditionen sowie die Komplexität der kubanischen Musik, sowohl sakraler als auch weltlicher und ritueller. “Gnosis” ist ein aufregendes, lebendiges und facettenreiches Projekt von sich schnell änderndem Temperament, das sowohl Raum für pulsierende Ensemblemusik als auch makellose, meditative Klaviersolo-Stücke bietet. Und eingehüllt ist es in jenes Gefühl von Mysterium und Magie, das auch schon alle anderen Alben von Virelles so besonders gemacht hatte.
“'Gnosis' erzählt von der Überschneidung der Kulturen”, sagt Virelles, “und von der anhaltenden Auswirkung dieses Prozesses in unserer Gegenwart. Das Wort ‘Gnosis’ bezieht sich in diesem Kontext auf ein historisches kollektives Wissensreservoir.” Den Streichern, Holzbläsern und Perkussionisten wurden auf “Gnosis” spezifische Aufgaben zugeteilt, sie repräsentieren “verschiedene Familien, die innerhalb einer Einheit wirken: diese Dynamik symbolisiert multikulturelle Interaktion." Innerhalb der Ensemblestücke stehen Virelles' responsives Klavier und der Gesang und die Perkussion des Poeten/Schlagzeugers Román Diaz oft im Zentrum der Handlung und tragen die Geschichte weiter.
Virelles, der sich der unterschiedlichsten kubanischen Quellen bedient, sagt, dass ihn beim Schreiben der Musik für dieses Album Amadeo Roldán und Alejandro Garcia Caturia beeinflusst haben, zwei Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts, die als Erste das afrokubanische Perkussionsarsenal in ihre Orchestersätze einbanden. “Ihr Erbe diente mir bei Erschaffung dieses Stücks als Kompass.” Eine Reihe von Perkussionsinstrumenten spielen eine wichtige Rolle. “Besonders interessant sind das Marimbula und und das Biankoméko-Ensemble”, erklärt Virelles. “Das Marimbula, eine Holzkiste mit Metalllamellen, wird traditionell in der Changüi-Musik benutzt. Es wurde früher auch in der Son-Musik verwendet, bevor der Bass es dort ersetzte.” Das Biankoméko, ein sakrales Perkussionsensemble des Abakuá-Geheimbundes, hatte schon auf Virelles' erstem ECM-Album “Mbókó” eine zentrale Funktion.
“Gnosis” bedient sich auch des Vokabulars des Abakuá-Bundes, ist aber trotz all seiner historischen Verweise ein nach vorne blickendes Stück, das bei seiner Erstaufführung (im November 2015 in der Music Gallery in Toronto) als “futuristische afrokubanische Kammermusik” angekündigt wurde. Ein derart gestaltetes und geformtes Werk konnte nur von einem begabten modernen Musiker kreiert werden, der sich gründlich mit zeitgenössischer Komposition und der Kunst der Improvisation auseinandergesetzt hat. Wie die New York Times beobachtete, hat Virelles “eine sichere Hand und beherrscht verschiedene musikalische Wortschätze, aus denen er scheinbar zielstrebig eine Synthese erschaffen möchte, die weder schematisch noch offensichtlich ist.”
Den Großteil von “Gnosis” komponierte Virelles in New York, wo er heute in der Improvisationsszene als einer der konsequentesten kreativen Musiker gilt. Laut Wall Street Journal hat er “die Milieus zweier Inseln, Kuba und Manhattan, vollkommen absorbiert und übt nun durch subtile Innovationen Einfluss aus”. Wenn Virelles nicht mit seinen eigenen Bands arbeitet, spielt er derzeit u.a. mit Chris Potter oder Tomasz Stanko, wie verschiedene ECM-Alben dokumentieren (zu hören ist er auf Potters “The Dreamer Is The Dream” und “The Sirens” sowie Stankos “December Avenue” und “Wisława”). Enge Verbindungen unterhält er zudem mit Musikern aus dem Dunstkreis des AACM, darunter Muhal Richard Abrams und Henry Threadgill, bei denen er Komposition studierte. Threadgill, der auf Virelles' “Antenna”-EP mitspielte, arrangierte für das vorliegende Album auch “Dos”, eines der Solo-Klavierstücke. Ein weiterer wichtiger musikalischer Partner ist außerdem der Saxophonist Ravi Coltrane, dessen Quartett der Pianist einst angehörte. Die beiden traten in letzter Zeit öfter im Duo auf. Ihre Performance beim 2017 New York Winter Jazzfest wurde als einer der Festival-Höhepunkte gefeiert.