Auch mit 82 Jahren stellt sich Norma Winstone, die “Grande Dame des britischen Jazz” (BBC) noch mutig neuen musikalischen Herausforderungen. Zuletzt hatte man die einzigartige Sängerin und Lyrikerin bei ECM 2018 auf dem Album “Descansado – Songs For Films” in Gesellschaft ihrer langjährigen Trio-Partner Glauco Venier (Piano) und Klaus Gesing (Soprasax & Bassklarinette) sowie dem Perkussionisten Helge Andreas Norbakken und dem Cellisten Mario Brunello bewundern können. Auf “Oupost Of Dreams” ist sie nun mit dem englischen Pianisten Kit Downes zu erleben, der – Jahrgang 1986 – einer wesentlich jüngeren Generation angehört. Das Repertoire der beiden besteht größtenteils aus neuen Stücken von Downes, zu denen Winstone ihre gewohnt poetischen eigenen Texte beisteuert. Darüber hinaus vertonte das Duo auch Stücke von Carla Bley, Ralph Towner und John Taylor. Abgerundet wird das abwechslungsreiche Programm schließlich durch erfrischend neue Interpretationen der beiden Traditionals “Black Is The Colour” und “Rowing Home”.
Das Duo mit Kit Downes, so sagt Norma, ergab sich zufällig und ziemlich spontan. Die Pianistin Nikki Iles, die sie normalerweise bei Konzerten in Großbritannien begleitete, war verhindert und konnte einen Auftritt in London nicht wahrnehmen. “Als Ersatz buchte ich Kit, mit dem ich nie zuvor zusammengearbeitet hatte. Aber natürlich konnte er alles sofort spielen, noch dazu in einer verblüffenden Art und Weise. Also gaben wir noch ein paar weitere Komzerte. Dabei stellte ich fest, wie gut ich mit seinem Sinn fürs Abenteuerliche korrespondierte. Du weißt nie genau, was passieren wird, und das ist etwas, das ich liebe.” Als die London Jazz News vor drei Jahren eine Sammlung von Grußworten zu Normas 80. Geburtstag zusammenstellte, schrieb Downes: “Ich kann es kaum erwarten, in naher Zukunft wieder zusammen mit ihr von musikalischen Klippen zu springen.” “So denken wir beide darüber”, sagt Winstone lachend. “Wir werden sehen, wohin uns das Projekt führt.”
Um die richtigen Worte für den Text zu einem Musikstück zu finden, muss Norma Winstone in den meisten Fällen erst einmal eine Zeit lang mit der Komposition gelebt haben, bis diese ihre innere Botschaft preisgibt: “Ich habe das Gefühl, dass ich nach Worten suche, die bereits in der Musik enthalten sind. Immer. Das ist meine Arbeitsweise. Und wenn sich die Worte dann offenbaren, ist es, als wären sie schon immer da gewesen.” Diese Vorgehensweise wurde hier oft auch bei den neueren Stücken angewandt, obwohl Norma auch offen für erzählerische Anregungen war, so wie bei “Out Of The Dancing Sea”.
“Die schottische Malerin Joan Eardley hatte die Angewohnheit, viele Male hintereinander dieselbe Szene aus ihrem Garten mit Blick aufs Meer auf Leinwand zu bannen”, merkt Kit Downes zu dem Stück an. “Aber die Bilder waren irgendwie immer anders, wegen des Lichts, der Tageszeit, ihrer eigenen Stimmung, des Wetters usw., auch wenn es genau die gleiche Ansicht war. Außerdem ließ sie die Leinwand über Nach draußen stehen, so dass Teile der ‘Natur’ an ihr kleben blieben. Dies war die Inspiration für die Musik, die Aidan O’Rourke und ich geschrieben haben und die wiederum auch von James Robertsons Kurzgeschichte ['The Painter' in der Sammlung ’365 Stories'] über sie inspiriert wurde. Norma greift die Geschichte auf ihre eigene Weise in dem Liedtext auf.”
Das Album wird mit dem Stück “El” eröffnet, das Kit Downes seiner kleinen Tochter gewidmet hat. “Suddenly we see a future / Slowly rising like a fountain”, singt Winstone hier. Ihre einfühlsamen Worte und Kits delikate Melodie werden durch einen beinahe unterschwellig schimmernden hohen Bordunton – wie ein Heiligenschein – einer Hammond-B3-Orgel noch verstärkt: Man muss schon genau hinhören, um ihn wahrzunehmen.
Der Titel des Albums, “Outpost Of Dreams”, ist der letzten Zeile von Normas Text zu Downes' Komposition “The Steppe” entlehnt, in der die Sängerin eine karge Landschaft mit emotionaler Leere gleichsetzt. Träume tauchen auch noch in anderen Texten des Albums auf, und in der Spoken-Word-Nummer “In Search Of Sleep” geht es um die Abwesenheit derselben.
Einige der Stücke stammen aus Kit Downes' Solo-Repertoire, darunter Carla Bleys “Jesus Maria”. Die Nummer hatte Carla 1961 für das legendäre Jimmy Giuffre 3 mit Paul Bley und Steve Swallow geschrieben (das Original ist auf dem 1992 bei ECM erschienenen Doppelalbum “Jimmy Giuffre 3, 1961” zu hören). Den Text zu Kits Version schrieb Norma, ohne zu wissen, dass Carla selbst schon 1966 einen eigenen Text verfasst hatte, in dem eine Mutter ihrem kleinen Sohn Jesús Maria erklärt, wie er zu seinem Namen gekommen ist, für den er in der Schule gehänselt wird. “Was soll ich jetzt tun?”, fragte Winstone bei Steve Swallow, dem Lebensgefährten der im vergangenen Jahr gestorbenen Komponistin, nach. “Verwende deinen eigenen Text”, lautete dessen weiser Ratschlag. In ihrem Songtext stellt sich Norma “eine sonderliche Person mit außergewöhnlichen Kräften vor, die Dinge zu verstehen scheint… die Worte sind ziemlich vage, zumindest hoffe ich das. Ich habe versucht, nicht zu spezifisch zu sein.”
“Fly The Wind” ist ein Stück des Pianisten John Taylor, mit dem Norma in den 1970ern eine Zeit lang verheiratet war. Die um 1978 entstandene Nummer hat Taylor auch unter dem alternativen Titel “Wych Hazel” aufgenommen. “Nachdem John [ 2015] gestorben war, wollte ich gerne etwas mit dieser Komposition machen, als Hommage an einen inspirierenden Geist.”
Das Traditional “Black Is The Colour” scheint Künstler zu radikal unterschiedlichen Interpretationen geradezu einzuladen – berühmte Beispiele sind Luciano Berios Bearbeitung für die Sopranistin Cathy Berberian in seinem “Folk Songs”-Zyklus (1971) und Patty Waters' nahezu 14-minütige Free-Jazz-Version für ihr Album “Sings” (ESP-Disk. 1965). Für ECM haben diesen Klassiker bereits Marc Johnsons Band Bass Desires (“Bass Desires”, 1986) und die Schweizer Sängerin Susanne Abbuehl (“Compass”, 2019) aufgenommen. Die Version von Winstone und Downes hat eine klassische Eleganz. “Es ist ein Lied, das ich schon immer mochte, aber noch nie gesungen hatte”, verrät Norma.
“Rowing Home” ist hingegen ein Stück, das man seltener hört. Es ist ein skandinavisches Volkslied mit dem Originaltitel “Ro Hamåt”, zu dem Norma hier einen eigenen Text schrieb. Kennengelernt hatte sie den Song durch eine 1979 entstandene Aufnahme des Arrangeurs und Pianisten Bob Cornford mit Kenny Wheeler, Tony Coe und dem NDR Pops Orchestra. Die Melodie ist eine nahe Verwandte des englischen Traditionals “Searching For Lambs”.
Das von Ralph Towner komponierte “Beneath An Evening Sky” wurde erstmals im Juli 1979 für das ECM-Album “Old Friends, New Friends” aufgenommen. Nur ein paar Monate später, im Dezember 1979, sollte der Gitarrist auf dem “Départ”-Album von Azimuth gastieren, wodurch sich ein neuer Zirkel musikalischer Einflüsse eröffnete. Den Text für das prächtige Stück hatte Norma schon vor langer Zeit geschrieben. Und Downes wählte einen freien und fragmentarischen Ansatz für sein Arrangement dieser Nummer.
Die Erkundung dieser Stücke ist bei den Konzerten des Duos zunehmend offener geworden. Dabei werden die Lieder stets durch frei improvisierte Zwischenspiele miteinander verbunden.
“Outpost Of Dreams” wurde im April 2023 im Artesuono Studio in Udine aufgenommen und im Januar 2024 im Bavaria Studio in München abgemischt und von Manfred Eicher produziert.
Ihr nächstes ECM-Album hat Norma Winstone, die am 23. September ihren 83. Geburtstag feiert, bereits aufgenommen. Auf ihm wird es Vertonungen von Songs aus der Feder von Steve Swallow geben. Nähere Informationen zu diesem Projekt soll es schon in Kürze geben.