Gemeinsam gestalten Jordina Millà und Barry Guy auf “Live In Munich” eine fließende, nuancenreiche Musik mit ständig wechselnden Stimmungen. Zugleich werfen sie ein neues Licht auf die Bedeutung und die Möglichkeiten der sogenannten “Extended technique” in der freien Improvisation.
Die Wege der beiden kreuzten sich erstmals 2017 auf dem Mixtur Festival in Barcelona, bei dem Barry Guy als “Composer in Residence” ein Stück mit einem gemischten Festival-Ensemble aus professionellen Musikern und Studenten schuf. Jordina Millà, eine der Pianistinnen in der Gruppe, fiel sofort durch “ihr Engagement, ihre Energie, ihre Virtuosität und ihre Kreativität” auf, und so entstand eine musikalische Freundschaft zwischen der Katalanin und dem Briten.
Im Juli 2021 gingen Guy und Millà in Barcelona ins Studio Rosazul, um ihr erstes gemeinsames Album “String Fables” einzuspielen, das Anfang 2022 bei dem polnischen Label Fundacja Słuchaj erschien. “Live In Munich” ist ein großer Fortschritt in Bezug auf die Tiefe des Klangs und die Bandbreite des Ausdrucks, eine Aufnahme von bemerkenswerter Klarheit selbst in Momenten intensivster Aktivität.
Bei der Charakterisierung des wirbelnden, wogenden Klangs des Duos stellt Jordina Millà Analogien zu den Bewegungen des Meeres her, “so voller Leben und dunkel zugleich, so dass ein Wechsel des Lichts die Schätze und Wunder sichtbar macht”. Beim Zusammenspiel im Duo "erlauben ein geschärftes Gehör und eine erhöhte Empfindsamkeit, Farben und plötzliche Veränderungen wahrzunehmen, auszudrücken und im musikalischen Diskurs zu etablieren.
Barry Guy, der dafür bekannt ist, beim Improvisieren das gesamte Klangpotenzial des Kontrabasses auszuschöpfen, findet hier in Millà eine kongeniale Partnerin. Sie verfügt nicht nur über beeindruckende pianistische Fähigkeiten, sondern eröffnet mit ihren erfindungsreichen Erkundungen des Klavierinneren (Stichwort “Extended technique”) eine neue Klangwelt, indem sie die Saiten wie die einer Harfe spielt und ihnen so faszinierende Texturen und glitzernde Obertöne entlockt. “Mit diesen Farben zu arbeiten”, sagt Barry Guy, “ist eine große Herausforderung und Freude!”
Nach einem Studium klassischer und zeitgenössischer Musik in Rotterdam und Paris sowie ihrer Mitwirkung in verschiedenen Kammermusikensembles begegnete Jordina Millà in Barcelona dem Pianisten Agustì Fernández, der “grauen Eminenz” der Free-Szene und Neuen Improvisationsmusik in Spanien. Er avancierte zu Millàs Mentor, führte sie in die Welt der Improvisatoren ein und unterstützte ihre Arbeit. Fernández erkannte schnell die Originalität von Millàs Ansatz und schrieb 2018: “Wir spüren, wie Jordina durch das Klavier atmet. Wie schafft sie es bloß, solch traumhafte Stimmungen zu erschaffen, Landschaften zu bereisen, die so suggestiv und wunderschön sind, energisch und süß zugleich…?”
Neben ihrer Arbeit im Bereich der Improvisation ist Jordina Millà an diversen Tanz- und Theaterprojekten beteiligt. Eines ihrer aktuellen Projekte ist “Tide Mountains / The Edge Of Sky”, eine neue Zusammenarbeit mit Roberta “Robie” Legros und Julyen Hamilton (Choreographie und Tanz). Im Jazzbereich arbeitete die seit einiger Zeit in München lebende Pianistin u.a schon mit dem Trompeter Axel Dörner und dem Gitarristen Andreas Willers zusammen.
Barry Guy steht seit mehr als 50 Jahren an der Spitze der kreativen Musik. Er gehört der sogenannten “ersten Generation” britischer Improvisatoren an, die in den späten 1960er Jahren die Sprache des freien Spiels in Großbritannien etablierten. Seitdem ist er in einer Vielzahl von Genres in den verschiedensten Rollen aktiv – als Solist, Kammermusiker, Barockmusiker, Leiter des London Jazz Composers Orchestra und mehr. Außerdem war er Solobassist in einer Reihe von Orchestern, darunter das Orchestra of St. John’s Smith Square, City of London Sinfonia, Monteverdi Orchestra, The Academy of Ancient Music, Kent Opera und The London Classical Players.
Bei ECM ist von ihm unter anderem das Album “Folio” erschienen, auf dem Guy mit dem Münchener Kammerorchester eigene Kompositionen vorträgt. Weitere ECM-Highlights, die seine Vielseitigkeit unterstreichen, sind das Duo-Album “Ceremony” mit der Barockviolinistin Maya Homburger (seiner Ehefrau!) und eine Zusammenarbeit mit dem Hilliard Ensemble auf “A Hilliard Songbook”. Darüber hinaus ist Barry Guy auch auf ECM-Aufnahmen von John Potterb (“In Darkness Let Me Dwell”, “Care-Calming Sleep”, “Night Sessions”), des Evan Parker Electro-Acoustic Ensemble (“Toward The Margins”, “Drawn Inward”, “Memory Vision”, “The Moment’s Energy”) und des von Evan Parker und Roscoe Mitchell geleiteten Transatlantic Art Ensemble (“Boustrophedon”, “Composition/Improvisation Nos. 1, 2 & 3”) zu hören.