“The Song Is You” dokumentiert das inspirierte Aufeinandertreffen zweier wahrer Meisterimprovisatoren. Den italienischen Trompeter und Flügelhornisten Enrico Rava und den US-amerikanischen Pianisten Fred Hersch eint ihre Liebe für die Musikgeschichte. Und auf ihrem Duo-Album erkunden sie gemeinsam Standards wie Jerome Kerns “The Song Is You”, Thelonious Monks “Misterioso” und “Round Midnight”, Tom Jobims “Retrato em Branco e Preto” und George Bassmans “I’m Getting Sentimental Over You”. Darüber hinaus präsentieren sie aber auch zwei eigene Stücke – Herschs “Child’s Song” sowie Ravas “The Trial” – und musizieren in “Improvisation” auf vollkommen freie Art und Weise miteinander. Es ist eine subtile und tiefgreifende Performance. Wenn Musiker im Jazz diese Ebene des Verständnisses und Zusammenspiels erreicht haben, geht es bei der Darbietung weniger um das Material – ganz gleich wie erlesen dies auch sein mag -, als vielmehr um das, was die Interpreten aus ihm machen. Rava und Hersch verfügen über einen großen Erfahrungsschatz und besitzen zudem ein feines Gespür dafür, wie man als Geschichtenerzähler die Jazzimprovisation als Kunstmittel einsetzen kann.
Seit Enrico Rava bei ECM Records debütierte, hat er für das Münchner Label sechzehn Alben unter seinem Namen aufgenommen. Das erste war 1975 “The Pilgrim And The Stars”, eingespielt mit John Abercrombie, Palle Danielson und Jon Christensen. Das Album gilt heute als moderner Jazzklassiker. Für Fred Hersch ist “The Song Is You” hingegen die erste ECM-Aufnahme. Die Werke des Pianisten erschienen bisher u.a. bei Labels wie Nonesuch, Palmetto und Sunnyside. Im Laufe seiner Karriere, die mittlerweile rund vier Jahrzehnte umspannt, präsentierte sich Hersch sehr oft in Duo-Besetzungen mit Sängerinnen, Sängern und verschiedensten Instrumentalisten. Über seine Vorliebe für dieses Format reflektierte er 2017 auch in seiner Autobiographie “Good Things Happen Slowly”: “Das Duo-Format ermöglicht mir gut, die gesamte Tastur zu nutzen, um mehrere Dinge auf einmal zu tun. Es erlaubt mir auch, die Musik zu orchestrieren, anstatt nur Blockakkorde mit der linken Hand zu spielen. (…) Ich habe meiner Liebe zum spontanen Kontrapunkt nachgegeben – kann simultan zwei oder mehr unabhängige melodische Linien spielen. Ich kann von einem Moment auf den anderen von brüllend laut zu pianissimo übergehen. Es ist ein kollaboratives und außerdem intimes Format. Man muss kompatibel sein, aber auch unterschiedlich genug, damit jeder der beiden Musiker etwas Einzigartiges bieten kann.” Auch Enrico Ravas Diskographie weist einige bemerkenswerte Duo-Einspielungen auf, darunter “The Third Man” (2007) mit dem Pianisten Stefano Bollani.
Bevor die beiden Musiker im November 2021 “The Song Is You” aufnahmen, hatten sie in Italien nur eine Handvoll gemeinsamer Auftritte absolviert. Aber schon beim ersten dieser Konzerte zeigte sich, dass hier etwas Besonderes vor sich ging. “Eine der Sachen, die ich von Anfang an wirklich mochte, war, dass Enrico nicht den Drang verspürt, ein Solo spielen zu müssen. Es ist nicht so klar definiert. Wir machen die Sachen gemeinsam”, erzählte Fred Hersch dem Journalisten Nicola Ferrauto in einem Interview am Rande des Padova Jazz Festival. “Er lässt zu, dass ich einsteige und ihn ein bisschen antreibe. Manchmal lasse ich ihm aber auch viel Freiraum. Die besten Duo-Partnerschaften sind die, bei denen man nicht zu viel darüber reden muss. Man spielt einfach. Und ich habe das Gefühl, dass dies eine lange Partnerschaft werden wird. Wir befinden uns wirklich auf derselben Wellenlänge, und Enrico ist ein großer Meister.”
Inspiriert unter anderem von Miles Davis und Chet Baker fand der 1939 in Triest geborene, aber in Turin aufgewachsene Enrico Rava früh zum Jazz. Als eine der treibenden Kräfte im internationalen Free-Jazz-Milieu der 1960er Jahre wirkte er an historisch bedeutenden Aufnahmen mit, darunter Steve Lacys “The Forest And The Zoo” (1967), Manfred Schoofs “European Echoes” (1969) und natürlich Carla Bleys episches Werk “Escalator Over The Hill” (1971). Von Anfang an war jedoch klar, dass Ravas Konzept der musikalischen Freiheit immer auch die Lyrik als eine ihrer Schlüsselkomponenten umfassen würde. Und dies ist bei all seinen künstlerischen Abenteuern eine Konstante geblieben. Enrico Rava, der heute als wichtigster Repräsentant des italienischen Jazz gilt, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 2002 mit dem Jazzpar Prize, Europas bedeutendster Auszeichnung für Jazzmusiker. 2005 ernannte ihn das renommierte Berklee College of Music zum Ehrendoktor. 2011 publizierte Rava das autobiographische Buch “Incontri con musicisti straordinari. La storia del mio jazz” (“Begegnungen mit außergewöhnlichen Musikern. Die Geschichte meines Jazz”), in dem er über fünfzig Jahre Musikschaffen reflektierte.
Zu den jüngsten ECM-Veröffentlichungen von Enrico Rava gehören zwei Live-Alben: “Roma” (2019), eine Zusammenarbeit mit Joe Lovano, und “Edizione Speciale” (2021). Auf beiden Alben ist der Pianist Giovanni Guidi zu hören, einer von vielen jüngeren italienischen Musikern, die Enrico als ihren Mentor betrachten.
Fred Hersch wurde 1955 in Cincinnati geboren und studierte am New England Conservatory in Boston u.a. bei Jaki Byard und Joe Maneri. 1977 ging er nach New York, wo er schon bald mit Art Farmer, Joe Henderson, Stan Getz und anderen arbeitete. Auf seiner ersten Aufnahme unter eigenem Namen, “Horizons” von 1984, stellte der Pianist sein Trio mit Marc Johnson und Joey Baron vor. Das Album etablierte Hersch auf Anhieb als unabhängige und originelle Stimme auf dem Klavier. Sein Faible für das Spiel im Duo führte u.a. zu Zusammenarbeiten mit Anat Cohen, Bill Frisell, Julian Lage, Chris Potter, Avishai Cohen und Miguel Zenón. Auch als Solist wird Fred Hersch immer wieder gefeiert: 2006 war er der erste Künstler, der eine Woche lang als Solopianist im New Yorker Village Vanguard auftreten durfte.
Einen hervorragenden Ruf genießt Hersch auch als Komponist. Große Aufmerksamkeit erregte er zum Beispiel mit seinen Vertonungen von Gedichten Walt Whitmans (die 2005 auf dem Album “Leaves Of Grass” erschienen), dem Multimedia-Projekt “My Coma Dreams” (2011) und seinen “Variations On A Folksong”, die im Januar 2022 von Igor Levit in der Carnegie Hall uraufgeführt wurden. Fred Herschs Memoiren “Good Things Happen Slowly” wurden 2018 von der Jazz Journalists Association zum Buch des Jahres gewählt. Im selben Jahr wurde er von der Vereinigung auch – wie schon 2011 und 2016 – zum Pianisten des Jahres gekürt.
Eine Vinyl-Ausgabe von “The Song Is You” wird voraussichtlich im November erscheinen.