Zusammengetan hat sich Benjamin Lackner hier mit wirklich außergewöhnlichen Instrumentalisten, die allesamt einen ausgeprägten Sinn für Zurückhaltung haben. Die Kompositionen des Pianisten sind von einer bemerkenswerten lyrischen Qualität und eröffnen seinen Mitspielern – Trompeter Mathias Eick, Schlagzeuger Manu Katché und Bassist Jérôme Regard – viele Möglichkeiten, ihren eigenen Charakter in die Musik einzubringen. Das einfühlsame Zusammenspiel der vier Musiker bringt dabei immer wieder subtile Grooves und fließende Soli hervor.
Zwischen Benjamin Lackner und Jérôme Regard herrscht eine besondere musikalische Chemie, die sich bis ins Jahr 2006 zurückverfolgen lässt. Denn seitdem gehörte der französische Bassist – der am Conservatoire de Paris Schüler des großen Jean-François Jenny-Clark war – Benjamins Trio an. Zwischen 2004 und 2019 spielte dieses Trio in verschiedenen Besetzungen sechs Alben ein – und auf der Hälfte von ihnen wirkte Jérôme mit. Für das neue Quartett musste Lackner den kompositorischen Rahmen erweitern. Dadurch dass er mit dem Trompeter Mathias Eick nun einen melodischen Partner zur Seite hat, ergaben sich für Benjamin völlig neue Möglichkeiten und Freiheiten.
“Wir haben früh entschieden, ein akustisches Album zu machen”, erläutert Benjamin. “Das erleichterte es mir, mich auf eine Richtung zu konzentrieren und ermöglichte mir zudem, das Klavier auf intimere Weise neu zu entdecken. Ich habe daran gearbeitet, Grooves zu finden, die mir erlauben, Melodien auf eine offenere Art zu entwerfen. Dadurch dass ich nun einen Bläser in der Band hatte, musste ich mir auf dem Klavier andere Harmoniestimmen ausdenken, als ich es gewohnt bin, und die Trompete als Hauptstimme betrachten. Das war für mich, da ich meist solo oder im Trio-Format spiele, auch Neuland. Aber es war eine inspirierende Abwechslung, mit Mathias im Hinterkopf zu schreiben, weil seine Phrasierung perfekt zu der Art und Weise passt, wie ich melodisches Material höre.”
Zusammengenommen sind Manu Katché und Mathias Eick bereits auf mehr als zwanzig ECM-Alben in Erscheinungen getreten. Und eine Reihe davon nahmen sie jeweils unter eigenem Namen auf. Tatsächlich waren sie 2007 auf “Playground”, Manus zweitem Soloalbum für das Label, sogar schon zusammen zu hören. Ihre Beiträge zu diesem Quartett sind sehr unterschiedlich – Katchés rhythmische Figuren auf dem Schlagzeug strahlen sowohl eine natürliche Räumlichkeit als auch eine spezielle Bestimmtheit aus, während Eicks luftiger Trompetenton über die bloßen Strukturen hinausgeht. “Im Studio waren meine Kollegen beim Arrangieren der Musik sehr aufgeschlossen und hilfreich”, verrät Lackner. “Wir haben dort schließlich einige Änderungen vorgenommen, durch die meine Kompositionen genau den letzten Schliff erhielten, den sie brauchten. Manu steuerte spontan unverwechselbare rhythmische Akzente bei und die ganze Session vermittelte uns ein Gefühl von Frische, weil einfach alles für uns alle neu war.”
Diese Frische ist vom Start weg offensichtlich, ebenso wie Benjamins Fähigkeit, einen Rahmen so zu gestalten, dass sich die außerordentlichen Talente seiner Mitspieler in ihm vollkommen entfalten können. Das Album beginnt mit der Rubato-Nummer “Where Do We Go From Here”, in der Katché vor allem sein delikates Spiel auf den Becken zur Geltung bringt, bevor er dem anschließenden “Circular Confidence” ein robusteres rhythmisches Fundament gibt. In letzterem Stück teilen sich Klavier und Trompete die melodischen Themen in gleichem Maß untereinander auf.
Jérôme Regard wiederum fungiert durchweg als harmonischer Partner und erdende Kraft. Mit aller Elastizität und Eleganz manövriert er seine Finger über das gesamte Griffbrett des Kontrabasses, wobei er sein Spiel oft mit Katchés verschiedenen Akzentuierungen verzahnt. Auf seinen Trio-Alben hat Lackner stets eine Mischung aus Eigenkompositionen, raffiniert überarbeiteten Jazzstandards und unkonventionellen Interpretationen von Pop-Hits geboten. Diesmal besteht das Programm fast ausschließlich aus Stücken, die aus Lackners Feder geflossen sind. Die einzige Ausnahme ist “Émile”, ein Bass-Solo-Feature für Jérôme Regard, das dieser nach seinem Sohn benannt hat. Die Nummer wurde von Jérôme ad hoc im Studio improvisiert und bringt den warmen, hölzernen Klang seines Instruments ausgesprochen transparent zur Geltung. “Camino Cielo” ist nach einem kalifornischen Gebirgszug benannt, in dem sich Benjamin Lackners Vorfahren in den 1930er Jahren nach ihrer Auswanderung aus Deutschland niedergelassen hatten. Der Bass fügt sich hier auf besonders geschmeidige Weise in die Band ein, so dass das bemerkenswerte Zusammenspiel der Gruppe in den Mittelpunkt rückt und nicht die Soli. Das gilt übrigens für den Großteil der Musik dieses Albums.
In Stücken wie “Hung Up On That Ghost”, “Last Decade”, “Remember This” oder “Open Minds Lost” geht es nie nur um das Individuum, sondern vielmehr um die Summe der einzelnen Teile. Und in diesem Fall ist es die Summe von vier Musikern, die mit Präzion und Achtsamkeit für einander über sorgfältig ausgearbeitete Entwürfe improvisieren. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei auch Produzent Manfred Eicher, der – so betont Benjamin Lackner – “die Improvisationen in einer Weise mitgeformt hat, wie ich es nie zuvor erlebt habe.” Die Schlussnummer “My People”, die ursprünglich strikt im 11/4-Takt gehalten werden sollte, wurde vom Kollektiv im Studio zu einem lockeren Rubato-Stück mit einem “jamfreundlichen” Mittelteil umgestaltet und resümiert noch einmal viele der zuvor vorgestellten Idiome. Das unterstreicht den Eindruck, dass “Last Decade” auf den Stärken jedes einzelnen Mitglieds des Quartetts aufbaut, während sie sich gemeinsam darum bemühen, ein größeres Ganzes zu erschaffen.
Im Januar 2023 werden Benjamin Lackner und sein Quartett die Musik von “Last Decade” bei einer Tournee durch Europa live vorstellen. Dabei werden sie auch viermal in Deutschland auftreten: am 13. Januar im Freiburger Jazzhaus, am 14. Januar im Dortmunder Domicil, am 16. Januar im Café Hahn in Koblenz und am 29. Januar schließlich im Theater von Regensburg.