Durch improvisatorischen Wagemut und kompositorische Phantasie hat Jon Balke im Laufe der Jahre seinen Ruf gefestigt, eine der originellsten Stimmen der kreativen Musik zu sein. Eine besondere Untergruppe stellen in seinem Œuvre inzwischen seine Soloaufnahmen dar. “Discourses” ist nach “Book Of Velocities” (erschienen 2007) und “Warp” (2016) bereits das dritte Soloalbum für ECM. Auf dem neuen Album, das bei Sessions im vergangenen Jahr aufgenommen wurde, setzt Balke sich erneut mit der Integration und Gegenüberstellung von akustischem Klavier und bearbeiteten Klanglandschaften auseinander.
Das Projekt, so erläutert er, sei ursprünglich als “eine Art Elegie” für einen Dialog im öffentlichen Diskurs konzipiert worden. “Als jemand, der Nachrichten und Artikel aus einer Reihe von Quellen liest, bin ich, wie viele Leute, wechselweise engagiert, schockiert, frustriert, inspiriert und manchmal auch froh über das, was ich beobachte. Und diese Emotionen begleiten mich dann auch beim Prozess des Musikmachens. Im Falle von ‘Discourses’ war die Sprache eine große Inspiration und ein Ausgangspunkt, um das Klavierspiel nach dem Vorbild der Rhetorik zu formen und zu gestalten.”
“Als sich das politische Klima 2019 mit immer stärker polarisierenden Reden verhärtete, brachte mich der fehlende Dialog auf die Begriffe, die nun die Titel der einzelnen Tracks bilden.” Es gibt sechzehn Stücke: “the self and the opposition”; “the facilitator”; “the container”; “the assumptions”; “the certainties”; “the suspension”; “the polarisation”; “the second argument”; “the why”; “the deliberation”; “the first argument”; “the how”; “the mutuality”; “the first afterthought”; “the second afterthought”; “the third afterthought”.
Interaktion – auf mehreren Ebenen – war unterdessen von zentraler Bedeutung bei der Entwicklung des Materials auf diesem Soloalbum, das an einem neuen Knotenpunkt von Komposition, Improvisation und Sounddesign operiert. “Die Kompositionen fungieren als Werkzeuge zur Unterstützung meiner Improvisationen und sind manchmal nur vage Texturen, manchmal solides, plastisches, melodisches und harmonisches Material.”
Die Vorproduktions-Phase widmete Jon Balke “dem Einstudieren von Melodien und Strukturen, der Aufnahme und Bearbeitung der Klanglandschaften, dem Ausprobieren von Kombinationen sowie der Live-Aufführung eines Teils der Musik in Soloklavierkonzerten mit Elektronik”. Die Klanglandschaften, auf die sich Balke bezieht und die sich wie ein roter Faden durch das Album ziehen, sind auf unterschiedliche Weise entstanden. Er verwendete dafür sowohl Field Recordings als auch Aufnahmen von bearbeiteten Instrumenten. “Ich habe viele davon auf meinem Cello eingespielt und sie mit verschiedenen Effektgeräten verfremdet. Ich habe auch Keyboards und Software-Erweiterungen verwendet.” Obwohl er für das Projekt einen rhetorischen Rahmen hatte, sind die Klänge selbst, wie Balke betont, eher abstrakt als illustrativ, “ausgewählt allein wegen ihrer Klangfarben und Funktionen”.
Das Klavier wurde schließlich im Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano aufgenommen. Mit Hilfe des Produzenten Manfred Eicher wurde das Album dort auch zusammengestellt und abgemischt. “Ich kam in Lugano mit einer Festplatte voller vorab aufgezeichneter Klanglandschaften an und hatte einen Plan, in welchen Stücken ich sie wie verwenden wollte”, sagt Balke. “Aber manchmal nahm die eigentliche Aufnahme eine andere, unerwartete Richtung, die eine andere Art von Layer erforderte, oder gar keines. Das war die wichtige Teamarbeit im Studio, bei der jede Auswahl diskutiert wurde. Bei dieser Produktion war Manfred ein sehr aktiver Mitschöpfer, sein Beitrag gab Orientierung in allen Details.”
Was hat sich in der Solomusik seit “Warp” verändert? “Ich habe versucht, den Klavierklang und die geschichteten Sounds klarer voneinander zu trennen”, sagt Jon Balke, “so dass die geschichteten Sounds mehr wie Reflexionen des Raums oder, wenn man so will, der Welt sind und das Klavier mit seinem Klangreichtum in sich selbst mehr Resonanz findet.”
Der volle Klang des Klaviers im Studio von Lugano fällt sofort auf. Dasselbe gilt auch für die intensive Konzentriertheit von Balkes Spiel. ECM hat, was Soloklavieraufnahmen betrifft, eine lange und ausgezeichnete Tradition, in die sich “Discourses” teilweise einzufügen scheint. Die verlockende Fremdartigkeit der bearbeiteten Klänge, zunächst fast unterschwellig, dann aber zunehmend offen, versetzt die Aufnahme in eine andere Kategorie, schlägt ein anderes Kapitel der Solo-Performance auf, erhöht die Aufmerksamkeit – und verlangt förmlich nach genauerem Hinhören.