Mit “Seeing” schlägt Tord Gustavsen ein faszinierendes neues Kapitel in seiner Reihe mit gefeierten Trio-Alben auf. Begonnen hatte er diese 2003 bei ECM Records mit “Changing Places”, einem Album, das längst als Klassiker betrachtet wird. Die neue Aufnahme mit ihren kompakten, konzentrierten Songformen “spiegelt meine persönliche Entwicklung wider”, sagt der norwegische Pianist. “Mit zunehmendem Alter konzentriere ich mich auf das Wesentliche im Leben und in der Musik.” “Seeing” ist mittlerweile Gustavsens zehnte Veröffentlichung bei ECM Records und zugleich sein sechstes Trio-Album.
Das Repertoire bietet eine einzigartige Mischung aus Jazz, Blues, Gospel, Folk, skandinavischer und englischer Kirchenmusik. Neben fünf neuen Originalen des Pianisten stehen Bearbeitungen von zwei Chorälen Johann Sebastian Bachs, ein traditionelles norwegisches Kirchenlied und der englische Choral "Nearer My God, to Thee" aus dem 19. Jahrhundert auf dem Programm. Zur Seite stehen Gustavsen sein langjähriger Schlagzeuger Jarle Vespestad (der schon zur Urbesetzung des Tord Gustavsen Trio gehörte) und der Kontrabassist Steinar Raknes (der erstmals 2022 auf “Opening” mit dem Trio zu hören war).
“Es geht primär darum, die Melodien wertzuschätzen”, sagt Gustavsen. Das Zusammenspiel der Gruppe schöpft seine Stärke aus der Zurückhaltung. Geduldig, aber prägnant wird die Musik zu ihren Höhepunkten hin aufgebaut, wobei der Pianist, inzwischen ein erfahrener Meister des Trio-Formats, mit seinem delikaten Anschlag und dezentem Gospel-Glimmern die Führung übernimmt.
So zeichnet sich "Seeing" nicht nur durch ein bezauberndes Gefühl der Bodenständigkeit aus, sondern auch durch das, was Gustavsen die “Effizienz der Form” nennt: “Auf dieser Platte findet man nicht viele ausschweifende Soli. Wir haben stattdessen versucht, unser musikalisches Können in das Zusammenspiel und in die Gestaltung kleiner improvisierter Teile zu investieren sowie die grundlegenden Details zu ‘maximieren’. Auf diese Weise bietet das Album einen guten Kontrast zu den Live-Konzerten, die wir heutzutage geben. Denn bei denen greifen wir oft auf epischere Formen und ausgedehnte Suiten zurück, führen mehrere Themen zusammen und spielen lange freie Improvisationen. Aber was das Ganze zusammenhält, ist, dass wir versuchen, das zu tun, was uns im Moment am lebendigsten und wesentlichsten erscheint. Wir folgen keinem Plan oder Skript, es sei denn, wir haben das Gefühl, dass es wirklich das Richtige ist.” Besonders interessant ist der kontrapunktische Austausch zwischen Bass und Klavier und der warme, runde, volle Klang des Kontrabasses, der in den Studios La Buissonne eindrucksvolleingefangen wurde. Für diese Aufnahme hatte das norwegische Trio das hochgeschätze Tonstudio in der Provence übrigens das erste Mal besucht. Es dürfte aber kaum das letzte Mal gewesen sein.
Das Album endet mit einem Stück des Pianisten, das den Titel "Seattle Song" trägt. Die Entstehung und Entwicklung dieser Komposition sind ein gutes Beispiel dafür, wie Tord Gustavsen und seine beiden Mitspieler darauf bedacht waren, die Dinge auf “Seeing” prägnant zu halten: “Die Melodie des Stücks kam mir im Februar 2023 in den Sinn, als wir einen Soundcheck in Seattle machten”, erzählt der Pianist. “Es passiert recht häufig, dass mir beim Jammen während des Soundchecks vielversprechende Ideen für Melodien, Grooves, Riffs oder Klangtexturen kommen. Oder wenn ich einfach nur auf dem Klavier herumklimper, während die anderen ihr Equipment aufbauen. Manchmal muss das Material danach noch in ausgefeiltere Form gebracht und durch ergänzende Abschnitte usw. erweitert werden. Aber in diesem Fall, verlangte die fast schon simple Grundidee geradezu danach, einfach so belassen zu werden. Ich dachte zuerst daran, es nur als Klavier-Solo-Intermezzo zu verwenden, aber dann stiegen Steinar und Jarle spontan ein und spielten es so schön und auf subtile Weise beruhigend, dass es tatsächlich ein Trio-Stück wurde. Und zwar eines, das wir sehr schätzen.”
Noch diesen Monat startet das Tord Gustavsen Trio mit dem Programm von "Seeing" eine ausgedehnte Tournee durch Europa, auf der es auch mehrfach in Deutschland Halt machen wird. Bereits am 28. Oktober tritt es in der Christuskirche in Leverkusen auf, bevor es dann Anfang 2025 für sechs weitere Konzerte im süddeutschen Raum zurückkehrt: am 21. Januar gastierte es im Erlanger E-Werk, am 22. Januar im Kammgarn in Kaiserslautern, am 23. Januar im Heidelberger Karlstorbahnhof, am 26. Januar im Freiburger Jazzhaus, am 29. Januar in der Münchener Unterfahrt und am 30. Januar schließlich im Stuttgarter Theaterhaus.