Für sein neues Album “Relations” ist der norwegische Schlagzeuger Thomas Strønen auf ungewöhnliche Weise mit Craig Taborn, Chris Potter, Sinikka Langeland und Jorge Rossy in einen musikalischen Dialog getreten.
Thomas Strønen(c) Carl Størmer / ECM Records
28.11.2024
“Relations” ist ein bemerkenswert unorthodoxes Album mit einem einzigartigen Sinn für musikalischen Fluss. Es bringt über die ganze Welt verstreute Geistesverwandte mit unterschiedlichen Traditionen zusammen und erzählt uns etwas Neues über jeden von ihnen. Das Album, das über einen Zeitraum von vier Jahren konzipiert und verwirklicht wurde, ist sowohl eine durchdachte Sammlung von Duos und Soli als auch die Antwort eines Improvisators auf die Umstände, unter denen es entstanden ist. Im Mittelpunkt steht das Schlagzeugspiel von Thomas Strønen, der mal allein, mal im Zusammenspiel mit den Pianisten Craig Taborn oder Jorge Rossy, dem Saxofonisten Chris Potter oder der Sängerin und Kantelespielerin Sinikka Langeland zu hören ist.
Doch um den Anfang der Geschichte dieses Albums zu erzählen, müssen wir in den Sommer 2018 zurückgehen, als Thomas Strønen mit der Klarinettistin und Sängerin Marthe Lea und der Pianistin Ayumi Tanaka die Aufnahmen zu dem Album “Bayou” früher als geplant abschließen konnte. Um die verbleibende Studiozeit kreativ zu nutzen, schlug Produzent Manfred Eicher dem Schlagzeuger vor: “Spiel doch einfach mal etwas solo. Mal sehen, was dabei herauskommt.”
Strønen nahm den Vorschlag an und ergänzte sein Schlagzeugset mit Schlaginstrumenten des Orchestra della Svizzera italiana, für das das Auditorio Stelio Molo in Lugano eine Art Heimbasis ist. “Ich wollte diesmal beim Spielen einen eher ‘klassischen’ Ansatz wählen”, sagt Thomas Strønen. “Ich wollte direkter und konfrontierender spielen, mich selbst herausfordern, um herauszufinden, was für ein Spieler ich bin und wie ich in diesem Kontext agieren kann. Ich konzentrierte mich immer noch auf Details, Stille und Pausen, aber ich war konkreter in meiner Spielweise. Das war der allgemeine Rahmen…”
Das Album beginnt mit dem Solostück “Confronting Silence”, dessen Titel dem gleichnamigen Buch des japanischen Komponisten Tōru Takemitsu (1930–1996) entlehnt ist. Schimmernde Gongs und das tiefe Grollen der Gran Casa geben den konzeptuellen Ton an. Strønen nahm in Lugano viele Solo-Schlagzeugstücke auf und erwog die Möglichkeit eines reinen Schlagzeugalbums, bevor er sich entschied, andere Musiker in den Prozess einzubeziehen.
“In der Zwischenzeit machte es die Pandemie schwierig, sich für eine direkte Zusammenarbeit zu treffen”, erzählt Strønen. “Also schlug ich vor, einige Stücke an Leute zu schicken, die ihre Stimme dazu beisteuern könnten. Wir begannen, eine Liste zu erstellen. Manfred stellte eine Bedingung: Ich sollte nur Leute fragen, mit denen ich noch nicht zusammengearbeitet hatte. So kamen wir zu den Musikern, die auf dem Album zu hören sind. Ich habe jedem von ihnen mehrere Tracks geschickt, und sie konnten sich aussuchen, was sie spielen und wie sie es angehen wollten. Sie hatten hundertprozentige Freiheit. Alle waren willig und glücklich und haben mit wunderschönen Beiträgen geantwortet, und was vorher nur Schlagzeugstücke waren, wurde wirklich zu Musik. Mit zwei Spielern ergab alles mehr Sinn, fand ich. Außerdem gibt es immer noch genug Schlagzeug zu hören. Es wird genug getrommelt!”
Die Mitwirkenden verfolgten zum Teil gegensätzliche Ansätze. Sinikka Langeland, die mit der Hörtradition nordischer Volksmusik aufwuchs, lernte die Perkussionsstücke auswendig, bevor sie ihre Kantele und ihren Gesang beisteuerte. Craig Taborn hingegen, als engagierter Echtzeit-Improvisator und Spontankomponist, entschied sich, die Perkussionsstücke nicht vor der Aufnahme anzuhören, sondern von der ersten Sekunde an kopfüber in sie einzutauchen und im richtigen Moment darauf zu reagieren. Obwohl Langeland und Taborn gegensätzliche Klangwelten repräsentieren, werden ihre dramatisch unterschiedlichen Herangehensweisen auf “Relations” konstruktiv aufgegriffen. Interessanterweise – und das ist ein Gradmesser für den Erfolg dieses Projekts – hat Thomas Strønen inzwischen häufiger mit beiden zusammengespielt, ist mit Taborn in den USA aufgetreten und hat sich Sinikkas Band für ihr neuestes Album “Wind And Sun” angeschlossen.
Chris Potters Tenorsax und Thomas Strønens Schlagzeug bewegen sich in dem Stück “Weaving Loom” in einer Art und Weise, die manchmal an die Unerschrockenheit von John Coltrane und Rashied Ali zu Zeiten von “Interstellar Space” erinnert. “Ich mag diese New Yorker Art, einfach drauflos zu spielen”, sagt Strønen. “Wären wir zusammen in einem Studio gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich mehr an Chris' Spiel orientiert. Das wäre mehr die norwegisch-skandinavische Art…” Aber die Kraft dieses besonderen Duos, stimmt er zu, liegt in der Spannung der Gegensätze.
Der spanische Multiinstrumentalist Jorge Rossy machte Überstunden, als er sich mit Strønens Stücken beschäftigte. Zuerst lieferte er Versionen, in denen er abwechselnd Vibraphon und Schlagzeug spielte, dann die Klavieraufnahmen, für die sich Thomas schließlich entschied. “Jorge ist ein großartiger Schlagzeuger, keine Frage. Aber für dieses Projekt hatten wir schon genug Beats. Ich war an mehr Texturen und Klängen interessiert, und an der besonderen Qualität seines Klavierspiels”. Im Gesamtkontext des Albums ergänzt Rossys weiträumiges, atmosphärisches Spiel die Rigorosität von Craig Taborns Ansatz sehr wirkungsvoll.
Bei der Aufzählung aller Protagonisten, die an der Entstehung von “Relations” beteiligt waren, darf der Raum nicht fehlen, in dem die Geschichte ihren Anfang nahm: das Auditorio Stelio Molo, das für seine hervorragende Akustik bekannt ist. “Das ist das Studio, in dem ich am liebsten spiele”, sagt Thomas Strønen. “Alles, was man macht, klingt so transparent. Jede Textur, jeder kleine Schlag. Man muss extrem genau sein, weil es ein echter akustischer Raum ist. Achten Sie mal darauf, wenn ich mit Besen spiele. Das klingt wirklich laut. Selbst wenn ich die Trommel kaum berühre, hallt ihr Klang durch den ganzen Raum. Die Akustik kann auch zu Anspannung führen. Man darf nicht zu viel spielen. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles weglassen musste, was nicht unbedingt nötig war.”
Nachdem die Beiträge von Taborn, Potter, Langeland und Rossy aus New York, Oslo und Basel eingetroffen waren, mischten Manfred Eicher und Thomas Strønen das Material im Februar 2023 in den Münchner Bavaria Musikstudios mit dem Toningenieur Michael Hinreiner ab und fügten die musikalischen Episoden zu einer stringenten, unwiderstehlichen neuen Erzählung zusammen.