Auf “My Prophet” bietet Oded Tzur ein Programm mit fünf längeren Kompositionen und einer einleitenden Miniatur, die allesamt von einer raffinierten Intensität geprägt sind. Dem israelischen Saxofonisten gelingt es hier, eine feine Balance zwischen Extremen herzustellen: leidenschaftlich vorgetragene, einprägsame Refrains gehen Hand in Hand mit langen Passagen nachdenklichen und tief empfundenen Zusammenspiels.
Im Quartett mit dem Pianisten Nitai Hershkovits, dem Bassisten Petros Klampanis und Neuzugang Cyrano Almeida am Schlagzeug setzt Oded Tzur seinen ureigenen musikalischen Weg fort – ein fließendes Jazzidiom, das verschiedene Ausdrucksformen nahtlos miteinander verbindet – und taucht zugleich tiefer in die meditativen und hochkonzentrierten Sphären der Improvisation ein.
Im britischen Guardian bezeichnete John Fordham Tzurs vorangegangenes Album “Isabela” als “betörend” und nannte es “ein Musterbeispiel dafür, wie man mit weniger mehr erreicht”. “Seine Saxofontöne materialisieren sich unmerklich”, schrieb Fordham, “seine fragilen, akribisch geformten Noten scheinen in der Windstille zu schweben.” In der Tat hebt sich der einzigartig sanfte, flötenartige Ton des in New York lebenden Saxofonisten deutlich von denen seiner Zeitgenossen ab. Mit einer kompromisslosen Entschlossenheit, die ihresgleichen sucht, bahnt sich Tzur einen eigenen Weg durch die Welt des Jazz und der Improvisation. Und auf “My Prophet” hat er in dieser Hinsicht eine ganz neuen Ebene der Reife erreicht.
Ein hervorstechendes Merkmal des Quartetts ist seit seiner Ankunft bei ECM Records das außergewöhnliche Zusammenspiel zwischen Oded und Nitai, der seinerzeit Shai Maestro am Klavier ablöste. Mehr denn je bewegt sich Hershkovits hier frei innerhalb der Strukturen, die der Leader und seine Begleiter vorgeben, wechselt und kombiniert nahtlos Anklänge von Jazz, Klassik und anderen, experimentelleren Inspirationen, und verleiht der Musik so zusäzliche Spannung. In einer Besprechung seines 2023 bei ECM eschienenen Soloalbums “Call On The Old Wise” lobte das Magazin Stereophile die einzigartige Herangehensweise des Pianisten: “Während seine Gedanken und Gefühle fließen, findet Hershkovits immer wieder zu ungewohnten, wunderschönen Iterationen.” Das trifft auch hier wieder zu.
Oded hält das solide Zentrum und skizziert den kompositorischen Kern, während Nitai pianistische Pirouetten dreht und die Hauptthemen wie ein Wirbelwind umkreist.
“‘Freiheit in der Disziplin’ ist unsere Philosophie”, erklärt Oded. “Ich habe eine klare Vorstellung davon, wie die anfängliche Exposition eines Themas aussehen sollte und wie es am Ende wieder aufgegriffen werden sollte. Aber was dazwischen passiert, wird nur durch unsere individuellen Stimmen im Quartett definiert und wie wir die Freiheit innerhalb der Form steuern. Die Verbindung von Form und Freiheit ist für mich eine wunderschöne Vorstellung. Zwei so scheinbar unvereinbare Konzepte, die aber keinerlei Widersprüche provozieren.”
Das Nichtvorhandensein von Widersprüchen mindert jedoch nicht das Potenzial für musikalische Spannung. Tatsächlich gibt es auf dem Album jede Menge positive Spannung. Nach der ruhig vorgestellten Monophonie des “Epilogue” geht es mit “Child You” so richtig los. Die Band beschwört hier ein eng verwobenes Unisono herauf, bevor Oded mit nuancierter Dynamik zu einem sich in die Höhe schraubenden, melodiösen Soloflug ansetzt. In dem folgenden Stück, “Through A Land Unsown”, wird hingegen ein Schlaglicht auf das fundamentale Bassspiel von Petros Klampanis geworfen, dessen erdiger Ton in einem bluesig angehauchten Exkurs mit scheinbar simplen Changes, die von einem breiten dynamischen Spektrum gerahmt werden, die Führung übernimmt.
“Wenn man mit Leuten arbeitet, die in dem, was sie tun, großartig sind, dann ergibt sich diese notwendige Spannung ganz von selbst”, bestätigt Oded. “Das trifft auch auf meine Kollegen in diesem Quartett zu und insbesondere auf Nitai, der sich innerhalb der Strukturen und Frameworks, die ich vorgebe, bis an deren Grenzen vortastet. Es ergibt sich wirklich eine Situation, in der das Ergebnis ‘mehr ist als die Summe der Teile’, in der die unverwechselbare Stimme jedes Einzelnen im kollektiven Sound der Band kulminiert. Und dann ist da noch die besondere Beziehung zu Manfred Eicher im Studio. Er ist ein wirklich einzigartiger Zuhörer und trägt wieder auf seine Weise zu unserem kollektiven Sound bei. All diese Energien, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Material einwirken, haben zu dem einzigartigen Ergebnis geführt, das man auf diesem Album hören kann.”
Cyrano Almeida, der neue brasilianische Schlagzeuger des Quartetts, verleiht dem Ensemble einen ganz anderen Drive als sein Vorgänger Jonathan Blake. Mit seiner Leichtfüßigkeit belebt er die Konversationen zwischen den vier Musikern. Aufgewachsen innerhalb der afro-brasilianischen Candomblé-Religion, war er schon früh einer sehr musikalischen Umgebung ausgesetzt. Als Oded ihn in einem Club in Belo Horizonte spielen hörte, war er “sofort von diesem ganz anderen Puls angetan, den er in die Musik einbringt. Das wollte ich sofort in meiner Band haben.”
In dem Stück “Renata” stiftet der Schlagzeuger mit seinem Spiel – erst sanft wiegend, dann flink antreibend – seine Bandkollegen zu einigen ihrer lyrischsten Interaktionen an, wobei er mit seinem Jazzbesen winzige Blitze aufflackern lässt. “Musik”, so meint Oded, "ist vielleicht die einzig wahre Form der kollektiven Meditation." Im Titelstück des Albums erreicht die meditative Ausrichtung der Gruppe einen konzentrierten Höhepunkt. Der ausdrucksvolle Ton des Saxofonisten beschwört hier in Kombination mit Nitais impressionistischem Klavierspiel die Art von stiller Kraft herauf, die man auch im Spiritual Jazz findet. Mit “Last Bike Ride In Paris” verabschiedet sich die Band schließlich mit einem atemberaubenden furiosen Glanzstück.
Die Vinyl-Version von “My Prophet” wird aller Voraussicht nach ab 5. Juli erhältlich sein. Live kann man das Quartett in Europa noch dieses Jahr bei drei Konzerten erleben: am 14. August eröffnet es den Konzertsommer der Jazzbühne im österreichischen Lech am Arlberg, am 4. Oktober tritt es im Paradox in Tilburg/Niederlande auf und am 8. Oktober in der Münchener Unterfahrt.