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Rundum gelungenes Vabanquespiel

Auf seinem vierten Album “A New Day” trifft das Giovanni Guidi Trio auf den New Yorker Tenorsaxofonisten James Barndon Lewis. Eine spannende Begegnung, bei der sich beide Seiten gegenseitig aus der Reserve locken.
Giovanni Guidi PF2 ECM 2808
Giovanni Guidi PF2 ECM 2808
12.07.2024
Bereits seit etwas mehr als zehn Jahren unterhält der Pianist Giovanni Guidi (der 2011 als Mitglied des Quintetts seines Mentors Enrico Rava in den zum Zirkel von ECM Records stieß) sein Trio mit dem US-amerikanischen Bassisten Thomas Morgan und dem portugiesischen Schlagzeuger João Lobo. Gemeinsam spielten sie bisher drei Alben für das Label von Manfred Eicher ein: zunächst im reinen Trio-Format “City Of Broken Dreams” (2013) und “This Is The Day” (2015), dann 2019 mit dem Gitarristen Roberto Cecchetto als Gast “Avec Les Temps”. Auch für sein neues Album “A New Day” holte sich das Trio wieder Verstärkung an Bord: diesmal ist es der aus Buffalo/New York stammende Tenorsaxofonist James Brandon Lewis, der eine der aufregendsten neuen Stimmen auf seinem Instrument besitzt und zuletzt durch eine Aufnahme mit den Messthetics und mit seinem eigenen Mahalia-Jackson-Projekt für Furore sorgte. Durch seine Hinzunahme wurde hier nicht nur einfach die instrumentale Bandbreite des Ensembles erweitert; zusammen mit Lewis erschließen die Musiker des Trios auch neue Idiome und frische Perspektiven. Inspiriert von einem insgesamt gesteigerten Sinn für Kommunikation und Lewis' unverwechselbarem, selbstbewusstem Ton, werden außerdem andere instrumentale Wege eingeschlagen.
Seit Giovanni Guidi James Brandon Lewis vor vielen Jahren live erlebte, tauschten sich die beiden Musiker immer wieder untereinander aus und schmiedeten Pläne für eine Zusammenarbeit. Die erste Gelegenheit ergab sich 2020 in New York bei der Aufnahme des Albums “Ojos De Gato” (C.A.M. Jazz), einer Hommage an Gato Barbieri (der 2016 gestorbene legendäre argentinische Tenorsaxofonist war ein guter Freund von Giovannis Vater Mario Guidi gewesen). Die gemeinsame Session war der Initialfunke für die Idee, James Brandon Lewis auch für die nächste Aufnahme von Guidis Trio ins Studio zu holen. “Ich war davon überzeugt, dass wir im Gruppendialog mit James zu abstrakteren, offeneren und improvisatorischen Ansätzen finden könnten”, erzählt der Pianist. “In gewisser Weise war es ein ziemliches Vabanquespiel, da wir eigentlich aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommen. Aber die Session für ‘A New Day’ hat uns Recht gegeben: Das Trio wird auf neues Terrain gepusht, während James – so mein Eindruck – einen sehr einzigartigen und interessanten Weg gefunden hat, mit uns zu interagieren. Es war eine  wahre Entdeckungsreise.”
Das Rubato-Spiel ist hier nicht nur ein Grundprinzip, sondern eine unvermeidliche Konsequenz des Zusammenwirkens dieser individuellen Kräfte – und das musikalische Ergebnis ist umso besser. Vom ersten bis zum letzten Stück diktiert eher ein relativ freier Puls als ein strikter Takt das organische Ebben und Fluten des musikalischen Ausdrucks,  während die vier bestens auf einander abgestimmten Musiker Ideen, Gedankenblitze oder auch nur vage Andeutungen untereinander austauschen, die sie dann – als würden sie Punkte miteinander verbinden – zu einem größeren Ganzen entwickeln. Während sie durch dieses Labyrinth der Impulse und Reaktionen navigieren, intonieren sie oftmals wehmütige 
Melodien, die sich auf natürliche Weise – fast wie von selbst – aus den jeweiligen Strukturen erheben wie Berggipfel, die eine Wolkenkette durchbrechen.
Das Album beginnt mit “Cantos del Ocells” (eigentlicher Titel: “El cant dels ocells”), einem katalanischen Volks- und Weihnachtslied, das Joan Baez bekanntlich 1966 unter dem Titel “The Carol Of The Birds” aufgenommen hat. Nach einer ausgedehnten und wunderbar ausgewogenen Trio-Einführung in das Stück, steigt Lewis temperamentvoll und ausdrucksstark mit geschwungenen Linien ein. Statt sich an die Hauptmelodie zu klammern, hangelt er sich mit improvisatorischer Freiheit an den wichtigsten Noten entlang. Guidi kontrastiert diese flinken Linien mit Bordun-ähnlichen, arpeggierten Klavierpatterns und hüllt das Quartett auf diese Weise in einen faszinierenden Schleier. Es ist ein Ansatz, auf den der Pianist im Verlauf des Programms noch des Öfteren zurückgreift.
Vier der sieben Stücke von “A New Day” sind neue Eigenkompositionen von Guidi, die den Jazzjargon des Pianisten, in dem er verschiedenste Idiome kanalisiert, in einer übersprudelnden Gruppendynamik vorführen, bei der jeder Einzelne seine Stärken ausspielt. Thomas Morgans beeindruckendes Bogenspiel steht in “To A Young Student” im Vordergrund, während “Means For A Rescue” das Feld für die lebhaften, perkussiven “Radierungen” von João Lobo eröffnet – beide Stücke zeigen das Trio in seiner reinen Form und experimentierfreudiger denn je.
Die Kommunikationsstruktur des Kerntrios hat sich im Laufe der Zeit geändert und ist vielfältiger geworden. “Die Idee war, uns neu zu gruppieren und gemeinsam herauszufinden, wohin wir unsere Musik und unsere Beziehung zueinander führen wollten”, erläutert Guidi. “Wir entdeckten bald, dass wir bereit waren, in neue Gebiete vorzustoßen, 
mutiger und offener zu sein. Ich betrachte diese Session in vielerlei Hinsicht als einen Neuaufbruch, existenziell, aber auch musikalisch. Während der Session hatte ich das Gefühl, dass jeder von uns zu einer Erweiterung der jeweils anderen geworden ist, und dass wir in der Lage sind, einander zu verstehen und uns gegenseitig furchtlos voranzupushen.”
Als Nächstes folgt mit “Only Sometimes” eine Gruppenimprovisation, bei der Lewis nach der Hälfte wieder zu dem Trio stößt. Im Dialog mit Guidisetzt sich der Tenorsaxofonist danach besonders eindrucksvoll in “Luigi (The Boy Who Lost His Name)” in Szene. In “My Funny Valentine”, dem einzigen Standard des Albums, nimmt Guidi die Gelegenheit wahr, sich an 
den Tasten von seiner impressionistischen Seite zu zeigen. Mit “Wonderland” hat sich das Quartett, das sich hier geschlossen in Höchstform zeigt, eines der prägnantesten Themen des Albums für einen bewegenden Abschluss aufgehoben.
“Ich arbeite jetzt schon seit vielen Jahren mit Manfred [Eicher] zusammen”, sagt Giovanni Guidi. “Und jedes Mal bietet sich dabei eine neue Gelegenheit für tiefe Introspektion und freien Dialog, für Gedankenaustausch und den Gewinn neuer Erkenntnisse. Im Studio sagte uns Manfred, dass wir uns vorstellen sollten, ein ‘neues Album’ zu machen, und nicht einfach nur ‘das nächste Album’. Unsere Beziehung ist so stark und vertrauensvoll, dass wir alle die Chance ergriffen, uns kopfüber ins Ungewisse zu stürzen.” Deshalb erhielt das Album auch den Titel “A New Day”.