In den zurückliegenden mehr als zwanzig Jahren haben der Louis Sclavis und Benjamin Moussay in den unterschiedlichsten Konstellationen miteinander gespielt. Und auch auf den jüngsten ECM-Einspielungen des Klarinettisten – “Sources” (2012), “Silk And Salt Melodies” (2014) und “Characters On A Wall” (2019) – spielte der Pianist, der vor vier Jahren mit “Promontoire” ein eigenes Solo-Klavier-Album bei dem Münchener Label vorgelegt hat, eine zentrale Rolle. Erst in letzter Zeit verlagerten die beiden Franzosen ihren Schwerpunkt zunehmend auf das Duospiel. Bei ihren Auftritten in Europa griffen sie zunächst vorwiegend auf das Repertoire von “Characters On A Wall” zurück. “Für Klarinettist Louis Sclavis und Pianist Benjamin Moussay ist menschliche Nähe Voraussetzung für gelungenes Duospiel”, merkte Karl Lippegaus 2021 im Deutschlandfunk an. “Das schließt Spannungen ein. In ihren musikalischen Zwiegesprächen geht es abwechselnd wild und melancholisch zu. […] Ihr perfekt harmonierendes Duo setzt auf starke Kontraste und lebt von Empathie und intensivem Austausch.”
Dasselbe ließe sich auch über ihr erstes Duo-Album “Unfolding” sagen, für das sie ein Programm mit ausschließlich neuen Eigenkompositionen zusammenstellten – zwei Drittel stammen aus der Feder von Moussay, die restlichen Stücke schrieb Sclavis. Das Duo erschafft hier mit Gusto und zugleich hochkonzentriert eine schillernde Welt kammermusikalischer Konversationen, in der sich lyrische Kontemplation und verschmitzter Erfindungsreichtum die Waage halten. Die filigranen Melodien werden von dem Duo in warme Improvisationen gehüllt, die nie überstürzt sind, sondern das geschriebene Material mit seltener Kreativität und in flüssigen Dialogen geduldig erkunden.
“Für diese Aufnahme haben wir durchweg neues Material komponiert”, merkt Louis Sclavis an. “Ich habe ziemlich einfache Stücke geschrieben, die uns erlauben, viel zu improvisieren. Da wir nun schon über mehr als zwanzig Jahren hinweg in sehr unterschiedlichen Projekten zusammengespielt haben, sind wir immer besser darin geworden, uns selbst als Duo durch Improvisation und Losgelöstheit auszudrücken.”
Die Kompositionen der beiden sind spannungsgeladene, atmosphärische Balanceakte, die auf fragilen, leicht zweideutigen harmonischen Fundamenten errichtet sind. Sie offenbaren besonnene melodische Wendungen, die von einer eindringlichen Dunkelheit umhüllt sind, für die das Duo seine Inspiration aus einem breiten Spektrum an Quellen geschöpft haben könnte – etwa von Olivier Messiaen, dem französischen Komponisten und Organisten des 20. Jahrhunderts, oder auch von dem legendären Jimmy Giuffre 3 mit Paul Bley und Steve Swallow, dass in den frühen 1960er Jahren Maßstäbe für kammermusikalischen Jazz gesetzt hat.
Eröffnet wird das Album mit dem von Moussay geschriebenen Titelstück "Unfolding", einer sanft tönenden Anrufung, die mit subtilen dramatischen Veränderungen ausgeschmückt wird. Die einfallsreiche Art und Weise, mit der das Duo das klar strukturierte Thema improvisatorisch angeht, gibt die Leitlinie für das restlich Programm vor. Das ebenfalls von dem Pianisten stammende “Loma del tanto” beginnt indes spontaner. Klarinette und Klavier greifen hier zunächst immer wieder die Linien des jeweils anderen Instruments auf, bevor die sich abwärts windende Melodie der Coda vorgestellt wird.
Ein Tritonus-Motiv mit Betonung auf einem Aufwärtssprung – zuerst eine None, gefolgt von einer Oktave, dann eine große Septime, gefolgt von einer kleinen Sexte – bildet den Kernpunkt von “None”. Klavier und Klarinette bewegen sich während des gesamten Stücks in enger Umschlingung voran – so wie es übrigens beim Großteil des Albums der Fall ist. Anstatt sich beim Solospielen und der Begleitung strikt abzuwechseln, übernehmen Sclavis und Moussay melodische und harmonische Improvisationen oft gleichzeitig. Dass sie sich dabei nie in die Quere kommen, ist ein beeindruckender Beweis für ihr Können und ihre Diszipliniertheit. Wie Sclavis es ausdrückt, haben er und Benjamin “eine große Komplizenschaft in unserem Spiel und eine nahtlose Synchronität entwickelt”.
Aufgrund dieser zwischen ihnen herrschenden besonderen Chemie und ihrer Offenheit, von einer Klippe ins Ungewisse zu springen, erschien das Duo zu der Aufnahmesession nur mit einer vagen Vorstellung davon, wie die Stücke gespielt werden sollten. So ließen sie Raum für andere Perspektiven, die das Ergebnis beeinflussen könnten. "Wir kamen zu den Aufnahmen mit Ideen, die noch nicht zu sehr festgelegt waren. Wir wollten eng mit Manfred Eicher zusammenarbeiten, und wir wussten, dass einige der Kompositionen eine Richtung einschlagen würden, an die wir nicht gedacht hatten, und dass wir andere wahrscheinlich ganz fallen lassen würden. Schon als wir das Album vorbereiteten, hatten wir diesen Wunsch, unsere Kompositionen durch Manfreds Auge und Ohr selbst neu zu entdecken."
“A Garden in Ispahan”*, das erste Sclavis-Stück des Albums, ist ein elegante modale Komposition, in der sich behutsam Licht und Schatten abwechseln. Mit seinen pastellfarbenen Pinselstrichen erinnert es an den französischen Impressionismus in der Musik und der bildenden Kunst. Fortgesetzt wird die modale Linie in “Étendue”, einem anderen Stück des Klarinettisten, das an Debussys Verwendung von Ganztonskalen erinnert. Die geclusterten Klavierakkorde und Arpeggien, die mit dem Pedal betont und gehalten werden, bilden einen faszinierenden Spielplatz für kryptische Melodien.
*[Ispahan ist die französische Schreibweise für Isfahan}
Das dritte und letzte Sclavis-Stück ist "Somebody Leaves". Mit seiner nach Ornette Coleman klingenden Fanfare und seiner generell an den frühen Free Jazz erinnernden Form könnte es kaum in stärkerem Kontrast zum Rest des Programms dieser Session stehen. Sein spanisches Gegenstück, Moussays “Siete Lagunas”, beginnt mit einer weiteren flotten und erinnerungswürdigen Melodiephrase, der eine leichtfüßige Improvisationsshow des Duos folgt.
“Als ich meine Stücke für dieses Projekt schrieb, hatte ich bereits Louis und seine einzigartigen Stimmen auf der B- und Bassklarinette im Kopf”, sagt Benjamin Moussay. “Wenn man für ein Duo schreibt, und vor allem für jemanden, den man sehr gut kennt, ist es wichtig, Musik vorzuschlagen, die den Spielpartner inspiriert und ihm natürlich vorkommt. Ich stellte mir auch grundsätzliche Fragen zum Duospiel: Wie können wir das orchestrale Potenzial nutzen? Können wir beide Solisten sein? Oder Begleiter? Das sind Fragen, über die ich nachgedacht habe, aber die ich dann auch versucht habe, zur Seite zu legen, um den Instinkt sprechen zu lassen.”
Obwohl es den Musikern auf dem gesamten Album nicht an Inspirationen mangelt, wirkt Louis Sclavis in "L’heure du Loup" geradezu entrückt. Das Duo liefert sich hier das sparsamste aber auch geheimnisvollste Zwiegespräche des Albums, bei dem Sclavis die ganze Klangbandbreite seiner B-Klarinette auskostet. “Snow” beschließt das Album mit melancholischeren Tönen, die sowohl die Eigenart der kompositorischen Stimmen der beiden Musiker als auch die tief empfundene und über lange Zeit hin entwickelte Chemie zwischen ihnen unterstreichen.