Spannungsreiches Kontrastprogramm – zwischen Introspektion und Expressivität
Der Pianist Benjamin Lackner offenbart auf seinem zweiten ECM-Album “Spindrift”, das er mit einem exzellent besetzten internationalen Quintett eingespielt hat, ganz neue musikalische Facetten.
Matthieu Chazarenc / Linda May Han Oh / Benjamin Lackner / Mark Turner / Mathias Eick(c) Sam Harfouche / ECM Records
13.01.2025
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Auf “Spindrift”, seinem zweiten Album für ECM Records, meldet sich der deutsch-amerikanische Pianist Benjamin Lackner mit einem neu formierten Quintett zurück. In einer besonders intensiven Aufnahmesession, die im März 2024 in den Studios la Buissonne im südfranzösischen Pernes-Les-Fontaines stattfand, verfolgte Lackner neue kompositorische Ansätze, die auf spannende Weise weitere Facetten des Pianisten offenbaren. Von der Besetzung, mit der Lackner 2021 sein ECM-Debüt "Last Decade" eingespielt hatte, ist nur noch der norwegische Trompeter Mathias Eick übrig blieben, der diesmal mit dem Tenorsaxofonisten Mark Turner ein markantes Bläserduo bildet, das mit seinem einzigartigen Sound die Musik von “Spindrift” durchdringt. Zu dem Pianisten und den beiden Bläsern gesellen sich außerdem noch die unnachahmliche Bassistin Linda May Han Oh und der französische Schlagzeuger Matthieu Chazarenc, der seit über zehn Jahren Mitglied des Benjamin Lackner Trios ist.
“Ich habe die letzten beiden Jahre damit verbracht, annähernd 100 Stücke zu schreiben und bei jedem Song mit zwei oder drei Stimmen zu experimentieren”, erläutert Lackner den Prozess, der zu dem neuen Material führte. “Ich schrieb ein Stück, nahm noch am selben Tag eine Demoversion auf und ließ das Stück dann eine Woche lange ruhen, bevor ich entschied, ob ich es behalten wollte oder nicht. Je näher die Aufnahme rückte, desto mehr begann ich, meine Liste zu kürzen. Am Ende kam ich mit etwa 20 Songs zur Aufnahme ins Studio. Aus denen wählten wir wiederum die neun aus, die uns für die Session am besten geeignet erschienen. Was mich wirklich umgehauen hat, war die Offenheit und Spontaneität, mit der die Musiker an die Stücke herangegangen sind, obwohl ein Großteil der Musik sehr viel weiter ausgearbeitet war als bei ‘Last Decade’.”
Das Repertoire von “Spindrift” besteht, wie schon das Debütalbum, fast ausschließlich aus Eigenkompositionen des Pianisten. Einzige Ausnahme ist das Stück “Chambaray”, das von Lackners langjährigem Freund Matthieu Chazarenc stammt. In einem Programm, in dem Melodie und Ensemblespiel stets im Vordergrund stehen, treffen subtile Bläserlinien auf kontemplative Lyrik. Saxofon und Trompete übernehmen die Führung, bilden eine eigene kleine Einheit innerhalb des Ensembles und tragen mit elegant ineinander verwobenen Linien und fesselnden Soli zu einem besonders harmonischen Gruppenklang bei. Lediglich im Titelstück, mit dem das Album beginnt, tritt Mark Turner als einziger Bläser in Erscheinung und treibt das spritzige Stück in emphatische Höhen. Nach der flotten Eröffnungsnummer begibt sich das Quintett mit “Mosquito Flats” in ruhigere Gefilde. Eingeleitet von einem eleganten Rubato-Interplay, entwickelt sich das Stück zu zu einem sanft dahinfließenden und ansteckend melodiösen Midtempo-Groover.
Auch die folgenden Stücke sind geprägt von sanften lyrischen Klängen und reichen Harmonien. In “More Mesa” wartet Lackner mit dezenten Klavierimprovisationen auf, während die melancholischen Bläserlinien in “Chambary” von einem fließenden Puls untermalt werden, bevor “See You Again My Friend” Trompete und Saxofon in sehnsuchtsvollem Wohlklang vereint – Eick steht hier mit seinem unvergleichlich zarten Ansatz in starkem Kontrast zu Turners schärferem Ton und verschlungenen Linien. Eindringliche Melodien und ein eigenwilliger Umgang mit Raum und Zeit kleiden “Murnau” in das düstere Gewand eines Klagelieds, während “Fair Warning”, angetrieben von einem muskulöseren solistischen Schlagabtausch zwischen Mark Turner und Mathias Eick, mit zunehmender Spieldauer immer nachdrücklicher wird.
Die dunklere Tendenz einiger Stücke lässt sich auf die Themen zurückführen, mit denen sich Lackner während des Komponierens beschäftigte. Die politischen Unruhen, die in den letzten Jahren weltweit und vor allem in den USA herrschten, gingen auch an dem Pianisten nicht spurlos vorüber. "Ich suche Trost in der Musik und der Prozess des Komponierens ist für mich eine Form der Meditation", bemerkt Lackner. “Es mag düstere Unterströmungen auf dem Album geben, die von unterschwelliger Traurigkeit, vielleicht sogar Angst durchzogen sind. Aber ich höre auch Hoffnung aus ihnen heraus.”
“Anacapa”, ein weiteres zutiefst lyrisches Stück mit eng verschlungenen Bläserlinien, wird von einem sanften Backbeat auf dem Ride-Becken untermalt, während “Ahwahnee” – benannt nach einer Region im Yosemite Valley – den Raum für ein nachdenkliches, fast gesprächsartiges Wechselspiel zwischen den beiden Blasinstrumenten, dem Schlagzeug und dem Bass öffnet – das Klavier ist hier kaum zu hören und trägt nur zur Atmosphäre bei. Mit “Out Of The Fog” – der Titel symbolisiert laut Lackner “eine Reise von der Verwirrung zur Klarheit”- endet “Spindrift” introspektiv und unterstreicht noch einmal die Geschlossenheit des Ensembles und die einzigartige Stimmung des Albums.
Zur Zeit befindet sich der Pianist dem neuen Album auf einer Tournee durch Europa: