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Spiegelbild einer musikalischen Reise

Der norwegische Bassist Arild Andersen weist mit insgesamt 28 Aufnahmen als Leader und Sideman eine umfangreiche ECM-Diskographie auf. Was ihr bislang fehlte, war ein reines Soloalbum. Mit “Landloper” schließt er diese Lücke nun eindrucksvoll.
Arild Andersen
Arild Andersen(c) Kerstin Siemonsen / ECM Records
27.11.2024
Der norwegische Bassist Arild Andersen gehört zu den ECM-Künstlern der allerersten Stunde. Seit er 1970 als Mitglied des Jan Garbarek Quartet auf “Afric Pepperbird” seinen Einstand bei dem Münchner Label gab, hat er an der Einspielung von 28 ECM-Alben mitgewirkt, 17 davon unter eigenem Namen oder mit seiner Band Masqualero. Was in Andersens umfangreicher Diskographie bislang fehlte, war indes ein reines Soloalbum. Mit “Landloper” schließt der inzwischen 79-Jährige diese Lücke nun auf eindrucksvolle Weise. Die Aufnahmen für das Album wurden größtenteils am 18. Juni 2020 bei einem Konzert im Victoria Nasjonal Jazzscene in Oslo live mitgeschnitten und sind charakteristisch für die musikalische und kreative Bandbreite des Bassisten. Das Repertoire spiegelt Andersens musikalische Reise durch die Jahrzehnte wider. Er präsentiert eigene Kompositionen aus verschiedenen Phasen seiner Karriere (“Dreamhorse”, “Landloper” und “Mira”), wirft aber auch ein neues Licht auf einige Klassiker des Free Jazz (Ornette Colemans “Lonely Woman”, Charlie Hadens “Song For Che” und Albert Aylers “Ghosts”), ein norwegisches Volkslied (“Old Stev”) und einen Jazzstandard (“A Nightingale Sang In Berkeley Square”). Bei seinem Auftritt kombinierte Andersen sein meisterhaftes Bassspiel mit in Echtzeit generierten elektronischen Loops, die dem Solospiel eine atmosphärische Dimension verleihen und neue Möglichkeiten der improvisatorischen Interaktion mit sich selbst eröffnen. 
Das Thema von “Dreamhorse”, erinnert sich Arild Andersen, sei ihm 1994 bei einem seiner ersten Soloauftritte auf dem Kongsberg Festival spontan eingefallen. Danach entwickelte er es weiter und spielte es in verschiedenen Kontexten: eine Trio-Version mit Tommy Smith und Paolo Vinaccia ist zum Beispiel auf dem Album “Live At Belleville” zu hören. Für das Konzert in Oslo schuf Andersen drei Loops: “Für den ersten Loop habe ich die Saiten angeschlagen, um einen Rhythmus zu erzeugen, mit dem zweiten Loop habe ich Flageolett-Töne hinzugefügt, mit dem dritten schließlich die tiefen Basstöne. Und dann habe ich darüber improvisiert.”
Der Einsatz von Elektronik in Verbindung mit dem Bass ist ein Konzept, mit dem sich Arild seit Jahrzehnten immer wieder beschäftigt. “Eigentlich war es Paul Bley, der mich Anfang der 70er Jahre dazu brachte: ‘Hast du einen Tonabnehmer am Bass?’, fragte er mich. ‘Dann könntest du den Sound elektronisch verändern.’ Ich begann mit einem Roland-Echogerät und machte einfach nur kurze Loops für Effekte. In den Achtzigern stieg ich tiefer in die Materie ein, als Bill Frisell mir das Electro-Harmonix 16 Second Digital Delay vorstellte, dass mir eine Menge Looping-Möglichkeiten eröffnete, die damals von Künstlern wie Jon Hassell und Brian Eno erforscht wurden…” Zu Andersens aktuellem Equipment, das er auch beim Konzert in Oslo verwendete, gehören unter anderem eine Gibson Echoplex Pro Plus Loop-Maschine und ein TC Electronic M 2000 Signalprozessor. “Im improvisierten Live-Kontext ist es, als würde ich mit jemandem zusammenspielen. Ich drücke einen Knopf, höre mir an, was rauskommt und sehe, was ich dazu spielen kann.”
“Ghosts” leitet das erste Medley des Albums ein. Andersen stellt Aylers Thema sehr subtil vor, indem er den Bass mit dem Bogen nahe am Steg streicht und so leuchtende Flageolett-Töne erzeugt. Das Stück erinnert Andersen an seine Arbeit mit Jan Garbarek und Edward Vesala im “Triptkyon”-Trio Anfang der 1970er Jahre.  “Ghosts” geht über in “Old Stev”, ein traditionelles norwegisches Volkslied, das Arild 1990 bei seinem “Sagn”-Projekt mit der Sängerin Kirsten Bråten Berg kennen lernte. Und von dort ist es nur ein logischer Schritt zum Titelstück “Landloper”, das Bilder von Wanderern und Vagabunden vermittelt. Auch dies ist ein Stück, dessen Urspünge weiter zurückliegen: Es erschien erstmals 1980 auf dem ECM-Album “Lifelines”, dass Andersen mit Kenny Wheeler, Paul Motian und Steve Dobrogosz aufgenommen hatte.
“A Nightingale Sang In Berkeley Square”, 1940 von Manning Sherwin und Eric Maschwitz für die Londoner Revue “New Faces” geschrieben, gilt schon seit langem als Jazzstandard. Arild spielte das Stück bei einem Gedenkkonzert für seinen vor vier Jahren verstorbenen Kollegen und Freund Jon Christensen zusammen mit dessen Tochter, der Sängerin Emilie Stoesen Christensen. Für diesen Anlass hatte er eigens ein Akkordarrangement mit Doppelgriffen auf dem Bass erstellt. 
In der Astronomie ist “Mira” der Name eines pulsierenden roten Riesensterns mit veränderlichem Aussehen, der sich periodisch ausdehnt und zusammenzieht. Auch Arild Andersens “Mira” nimmt verschiedene Formen und Gestalten an. Zuletzt war es 2014 das Titelstück eines weiteren Trio-Albums mit Tommy Smith und Paolo Vinaccia.
Die klagende Melodie von Ornette Colemans “Lonely Woman”, die dieser 1959 auf seinem Album “The Shape Of Jazz To Come” vorstellte, inspirierte Tausende von Coverversionen. Andersen ist seit Anfang der 1960er Jahre ein Bewunderer des Stücks. Die vorliegende Version “mit erweiterter Bridge” ist, wie er sagt, von der Sängerin Karin Krog beeinflusst, mit der er das Stück 1972 für das Album “Different Days Different Ways” aufnahm. Gitarrenähnliche Klänge kündigen ein weiteres berühmtes Thema an, das mit Ornette in Verbindung gebracht werden kann, nämlich Charlie Hadens elegischen “Song For Ché”, der das Konzert beschließt. Die Stücke bieten Arild Andersen eine hervorragende Gelegenheit, die Kraft und die stimmlichen Qualitäten, die sein Bassspiel seit jeher auszeichnen, unter Beweis zu stellen. “Eigentlich hatte ich das nicht geplant, aber wenn ich mir die Titelauswahl ansehe und Ayler, Ornette und Haden nebeneinander finde, muss ich sagen, dass es eine schöne Hommage an die Musik ist, die ich all die Jahre gehört habe und die mich beeinflusst und inspiriert hat.”
Dem Live-Set geht ein Stück voraus, das Arild zu Hause aufgenommen hat und das sozusagen als Ouvertüre für das Projekt dient: “Peace Universal”, geschrieben von dem Schlagzeuger Bob Moses und arrangiert von Arild Andersen: “Ich war vor ein paar Jahren mit Bob auf Tournee, und wir haben uns musikalisch gut verstanden. Später schickte er mir dieses kleine Stück und erklärte mir, dass er es an zehn Bassisten schicken und jeden von ihnen bitten würde, seine eigene Version dieser einfachen Melodie für ein Album zu spielen, das er plante. Also spielte ich die Melodie zu Hause und entwickelte dann eine Art Streicherarrangement mit Akkorden und Variationen, so dass dieses eine Stück im Gegensatz zu den Live-Sachen eigentlich eher eine Studioarbeit ist. Ich nahm alles auf, schickte es Bob und sagte ihm, dass ich es gerne für mein eigenes Soloalbum aufnehmen würde. Das hat ihn sehr gefreut. Es an den Anfang des Albums zu stellen, war wiederum Manfred Eichers Idee”.
Dreamhorse
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