“Musik ist mein Leben, das Lied meine Atmung.” Mari Boine – Musik kann in einem Saiten zum Klingen bringen, von denen man vorher nicht einmal wußte, daß man sie überhaupt besitzt. Musik kann eine tiefere Bedeutung haben, aber sie kann einen auch in Stimmungen versetzen, die man nicht in Worte fassen kann. Stimmungen, die einen im Kern berühren, die eine Art von Urinstinkt ansprechen und einen in einen tranceähnlichen Zustand versetzen. Musik kann einen verwirren. Aber sie kann einen auch einfach glücklich machen, aufmuntern oder bereichern. Und vielleicht sogar komplettieren.
Mari Boines Musik hat diesen Effekt. Es ist unmöglich, eine Begegnung mit Mari und ihrer Musik zu haben und nicht von ihr berührt zu werden. Das heißt: Wenn man es wagt, sie so nah an sich heran zu lassen.
Ihre Musik ist eigentlich recht einfach. Ihre Kraft bezieht diese Musik aus dem Aufeinandertreffen der Lieder mit Maris Stimme und den instrumentalen Beiträgen der Musiker ihrer Band. Und aus der Interaktion mit den Zuhörern. Denn man muß Maris Musik schon mit offenem Ohr begegnen. Wenn man sich nicht auf sie einläßt, könnte es sein, daß man den Reichtum, den einem Maris Musik bietet, gar nicht erst entdeckt.
Denn Mari Boine ist eine außergewöhnliche Künstlerin, die nur schwer in die üblichen musikalischen Kategorien einzuordnen ist. Mag sein, daß sie eine samische Künstlerin ist; mag sein, daß sie eine Weltmusikerin ist. Vielleicht macht sie Musik im Grenzbereich von samischer und anderer Folklore, Jazz und Rock. Vielleicht ist sie die Summe all dessen.
Oder vielleicht ist sie auch einfach nur sie selbst. Eine Musikerin, Sängerin und Künstlerin, die ihre eigene Note hinterläßt. Die einen Weg verfolgt hat, auf dem sie nicht immer sah, wo ihr Ziel lag. Dieses hat sie übrigens bis heute noch nicht erreicht.
Auf ihrem Weg gewann sie Selbstvertrauen und einen klare Vorstellung davon, wer sie ist und wofür sie steht. Aber es ist ein weiter Weg, auf dem sicher noch viele Überraschungen und Herausforderungen auf sie warten. Ihr musikalisches Debüt machte Mari Boine in den frühen 80er Jahren. Damals war sie sehr verärgert und hatte dazu auch allen Grund. Es gab seinerzeit viele Leute und ebenso viele Umstände, die ihr aufs Gemüt drückten. Das Christentum, die Unterdrückung der samischen Sprache und Kultur, “die großen Herren im tiefen Süden” ihrer norwegischen Heimat.
In dem Text “This Is How I Was Convinced” schrieb sie 1982: “Ich lachte gemeinsam mit denen, die sich über die Samen lustig machten/obwohl es mich selbst am meisten verletzte./Denn es ist die eigene Sprache, die einem Kraft gibt.” Anfangs sang sie in Norwegisch und Englisch. Irgendwann dann in Samisch. “Es ist eine gute Sprache zum Singen”, meint sie, “sie ist so reich an Vokalen.”
Ihre Wut, ihre politischen Stellungnahmen und ihr Album “Gula Gula”, mit dem sie 1989 in ihrer Heimat und im Ausland den Durchbruch schaffte, machten sie zu einer bekannten Person. Einer Person, der man zuhörte. Viele Menschen betrachteten sie nun als eine Art Sprecherin des samischen Volkes und der samischen Sache. Nicht so Mari.
“Ich kann kein ganzes Volk repräsentieren”, meint Mari Boine. “Aber ich kann meine Geschichte als Samin und auf diese Weise auch einen Teil der Geschichte des samischen Volkes erzählen. In meinen Liedern kann ich den Schmerz der Unterdrückung beschreiben, den Kampf um die Wiedererlangung des Selbstrespekts, aber auch die die Freude darüber, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, die ein so enges Band mit der Natur hat. Ich war nicht immer so politisch aktiv. Mein Engagement ergab sich durch die Musik.”
Mari wuchs in einer Umgebung auf, in der die samische Sprache bis zu einem gewissen Punkt akzeptiert war. Eine Umgebung, in der es zwar in Ordnung war, Psalmen zu singen, aber nicht zu joiken. Im strikten laestadianistischen* Milieu galt das Joiken* als Teufelswerk (* Laestadianismus ist eine konservative lutherische Erweckungsbewegung, benannt nach ihrem schwedischen Begründer Lars Levi Laestadius (1800–1861), dem sogenannten “Apostel der Samen”. Joiken nennt man den lautmalerischen, gutturalen und oftmals improvisierten Gesang der Samen.)
“Heute bin ich keine Christin mehr”, meint Mari, “sondern Anhängerin einer anderen holistischen Religion. Ich glaube, diese Religion gewinnt weltweit an Boden. In meinen Gebeten wende ich mich an die Naturkräfte, etwa an den Sonnengott Beaivi, den Donnergott, den Windgott und die samischen Göttinnen. Ich bin nicht mit den alten Ritualen vertraut, da deren Überlieferung von der älteren an die jüngere Generation durch die christlichen Missionare unterbunden wurde. Aber meine Musik hat mir eine Spiritualität eröffnet, die mir Bedeutung verschafft – aber das kann ich nicht immer in Worten ausdrücken.”
Als Mari Boine 2003 den Musikpreis des Nordischen Rats erhielt, verlieh man ihr diesen für ihre ethnische Intuition, ihre künstlerische Kraft sowie ihre Kommunikationsfähigkeit, die sie Menschen in allen Winkeln der Welt erreichen läßt. Unabhängig von deren kulturellem Hintergrund. “Sie hat ihre musikalischen Wurzeln bewahrt und ihnen zugleich einen zeitgenössischen Ausdruck verliehen, mit dem sie ein enorm großes Publikum in der ganzen Welt erreicht”, hieß es in der Laudatio.
Nun gibt es ein neues Album. Und darauf erwarten einen auch einige Überraschungen.
“Es ist vollkommen irrelevant, wie man die Musik nennt. Es ist eine Musik, die nahtlos mit den Rhythmen und dem Klangbild unserer Zeit verschmilzt”, schrieb ein Kritiker vor ein paar Jahren anläßlich der Veröffentlichung des Albums “Gâvcci Jahkejuogo (Eight Seasons)”. “Sie könnte ihre Lieder vor tausend Jahren gesungen haben oder sie erst in tausend Jahren singen. An ihrer Tiefe und Resonanz würde sich nichts ändern. Um es anders zu formulieren: Es scheint, als ob Mari Boines Stimme nur das kleinste Stückchen der Ewigkeit offenbart.”
Ähnliche Reflexionen kann man auch leicht anstellen, wenn man nun die neuen Songs von “Idjagiedas (In The Hand Of The Night)” hört. Die Intensität, die Intimität und die starke persönliche Präsenz machen es einem einfacher Mari Boine zu verstehen, wenn sie behauptet: “Musik ist mein Leben, das Lied meine Atmung.”
“Idjagiedas” in Maris eigenen Worten:
Seit der Veröffentlichung von “Gâvcci Jahkejuogo (Eight Seasons)” sind vier Jahre vergangen. Die Leute fragen mich, warum ich zwischen meinen Alben solch eine lange Zeitspanne verstreichen lasse. Die Antwort ist simpel: ich brauche diese Zeit. Es lagen immer drei oder vier Jahre zwischen den Alben. Ich brauche diese Zeit, um Eindrücke zu sammeln, um etwas Wirkliches ausdrücken zu können. Erst dauert es seine Zeit, das Material zu kreieren und zu sammeln. Dann kostet es genau soviel Zeit, die Songs aufzunehmen. Danach gibt es die Pressetermine, Interviews.
Und dann beginnt natürlich der Teil der Arbeit, der mir am meisten Freude bereitet: auf Tournee gehen und die Lieder live vor Publikum spielen. Das ist die Zeit zu leben und zu fühlen, daß das lebhafte Leben auch ein Teil meiner Arbeit ist. Zumindest für mich.
Es hätte sogar noch länger dauern können, wenn ich von der Leitung des Telemark-Festivals nicht damit beauftragt worden wäre, eine Produktion für das letztjährige Festival zu machen. “Idjagiedas (In The Hand Of The Night)” besteht zum Großteil aus Liedern, die ich für diese Produktion geschrieben habe. Mit meinem regulären Bassisten und Produzenten Svein Schultz und den Musikern, die an der Uraufführung mitgewirkten, habe ich die Musik für diese Albumversion “aufpoliert”.
Ich habe auch noch ein paar andere Lieder zum Repertoire hinzugefügt. Eines wurde von meinem guten Freund Ross Reaver geschrieben. Das Lied trägt den Titel “Big Medicine”. Es ist für mich schon eine Art Tradition, auf meinen Alben auch stets zumindest einen Song in englischer oder norwegischer Sprache zu singen.
“Lottas (Little Bird)” war Teil der Musik, die ich für die deutsche Filmadaption des Märchens über Hans und Greta schrieb. Von den Texten dieses Albums verfaßte ich selbst nur zwei. Die restlichen Texte stammen von den samischen Autorinnen Karen Anne Buljo und Rauni Magga Lukkari. Zwei Lieder singe ich außerdem in einer Sprache, die gar nicht wirklich existiert, aber irgendwo tief in mir schlummert. Oder vielleicht ist es auch eine Sprache, die von außerhalb kommt… und nur durch mich hindurchfährt. Wer weiß?
Karen Anne Buljos Texte basieren auf der samischen Mythologie. Sie erzählt z.B. von Uldda Nieida, der Tochter von Kreaturen, die unter der Erde leben und weibliche Schamanen unterschätzen. Oder von der stolzen Afruvva, die ihren eigenen Weg ging und in der samischen Küstenregion als so etwas wie Pendant von Uldda Nieida gilt. Uldda Nieida war eine traumhafte Frau, die Männer bis in alle Ewigkeit verzaubern konnte, wenn diese nicht die magische Formel kannten, die sie brauchten, um sich aus ihrer Umarmung zu befreien. Ich habe letztes Jahr durch die Lektüre der Werke Karen Anna Buljos unglaublich viel gelernt und einen noch größeren Einblick in mein kulturelles Erbe gewonnen, das mich nach wie vor fasziniert.
In “Diamantta Spaillit (Reindeer Of Diamond)” vermischt sie meisterhaft Elemente von der alten, traditionellen Welt mit eingeborenen Völkern, tatsächlich sogar allen Völkern, und der harten Realität, wenn diese mit der Gier und dem konstanten Hunger nach mehr konfrontiert werden. In diesem Lied klingt Traurigkeit mit. Sie grämt sich über diese Kräfte, die scheinbar nicht aufzuhalten sind.
Rauni Magga Lukkari ist eine Meisterin, wenn es darum geht, die Liebe in all ihren Formen zu beschreiben. Aber sie versteht es auch unsere harte, entgegengesetzte Natur zu beschreiben. Es war mir eine große Freude, die Texte dieser beiden Frauen zu vertonen. Sie haben wesentlichen Anteil an der Erhaltung des Reichtums und der feineren Nuancen der samischen Sprache.
Dieses Mal wollte ich auch neues musikalisches Terrain erforschen, um neue Seiten meiner Stimme hervorzubringen. Deshalb bat ich Georg Buljo – der auf der Platte auch als Gitarrist zu hören ist – die Melodien zu drei Stücken zu komponieren. Svein Schultz hat auch einige Kompositionen beigetragen. Und wieder andere haben wir beide gemeinsam auf improvisierende Weise gefunden.
Produzent Svein Schultz über “Idjagiedas”:
“Idjagiedas” ist ein Album, das viele neue Elemente enthält. Während auf Maris früheren Alben der Schwerpunkt auf atmosphärischen Klängen lag, stehen diesmal die Melodien im Mittelpunkt. Die Melodien selbst und Maris Stimme. Mari erkundet hier neue Wege zu singen und stellt ihre Stimme ständig vor neue Herausforderungen. Sie trug diese Fähigkeiten schon lange in sich, offenbart sie aber auf diesem Album zum ersten Mal wirklich.
Mari hat sich auch sehr geöffnet und gewagt, neue musikalische Elemente zu verwenden, um eine andere Atmosphäre zu schaffen. In gewisser Weise ist alles erlaubt, wenigstens so lange, wie es Maris Identität als Künstlerin positiv beeinflußt. Dies führte dazu, daß wir ethnische Instrumente aus der ganzen Welt benutzten, allerdings auf unsere eigene Art. Wir haben immer wieder versucht, den “perfekten Sound” für jeden Song zu finden.
Die neuen globalen Instrumente – die elektronischen – setzten wir in einem aufregenden und neuen Kontext ein. Für Mari war es eine spannende Erfahrung, etwas mehr mit elektronischen Instrumenten zu arbeiten. So benutzten wir zwei Elemente, zwischen denen auf den ersten Blick Welten liegen: die archaischen Joik-Gesänge und die modernen elektronischen Instrumente. Aber wer weiß… vielleicht liegen diese Welten letztendlich gar nicht so weit auseinander.