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Zum Tod von Barre Phillips – ein Freidenker von radikaler Originalität

Im Alter von 90 Jahren verstarb am 28. Dezember 2024 der amerikanische Bassist Barre Phillips, der sich in der internationalen Szene einen Namen als Improvisator von radikaler Originalität und musikalischer Freidenker gemacht hatte.
Barre Phillips
Barre Phillips
10.01.2025
FolgtDer 1934 in San Francisco geborene Barre Phillips ließ sich 1962 in New York nieder, wo er sich mit Leib und Seele der Erkundung neuer Musik in allen erdenklichen stilistischen Ausprägungen widmete. So wirkte er zusammen mit Eric Dolphy an Aufführungen von Werken des “Third Stream”-Komponisten Gunther Schuller mit und pendelte zwischen dem hitzigen Avantgarde-Jazz Archie Shepps (“New Thing At Newport”) und der kontrapunktischen Poesie Jimmy Giuffres (“New York Concerts: The Jimmy Giuffre 3 & 4”), um – wie er es formulierte – “verschiedene Arten von Intensität” auszuloten. Ende der 1960er Jahre verlagerte er seinen Wirkungskreis nach London und arbeitete dort unter anderem mit dem Spontaneous Music Ensemble, Chris McGregor, Mike Westbrook, aber auch John Lennon und Yoko Ono zusammen. In dieser Zeit knüpfte Phillips auch eine lang anhaltende kreative Allianz mit John Surman und nahm ein Album mit Solo-Bass-Improvisationen auf, das allgemein als die erste Solo-Bass-Platte überhaupt gilt und unter verschiedenen Titel erschien: in den USA als “Journal Violone”, in England als “Unaccompanied Barre” und in Frankreich als “Basse Barre”. In den frühen 1970er Jahren ließ er sich dann in Südfrankreich in Puget-Ville bei Toulon nieder, wo er ein halbes Jahrhundert lang lebte, bis er 2021 schließlich in die USA zurückkehrte.
Mit “Music From Two Basses”, seiner ersten Aufnahme für ECM, schrieb Barre Phillips im Februar 1971 gleich wieder Geschichte. Das mit Dave Holland eingespielte Album ging als erste Platte mit weitgehend improvisierten Kontrabassduetten in die Annalen ein. Im Laufe der Jahrzehnte nahm er noch elf weitere Alben unter seinem Namen für das Label von Manfred Eicher auf. Mal präsentierte er sich auf ihnen wieder als Solobassist (“Call Me When You Get There”, 1984), dann im Zusammenspiel mit u.a. John Surman, Dieter Feichtner, Stu Martin, John Abercrombie, Terje Rypdal, Trilok Gurtu, Aina Kemanis, Pierre Favre, Alain Joule, Joe und Mat Maneri sowie dem Folksänger Robin Williamson. Darüber hinaus wirkte er auch auf ECM-Alben von Terje Rypdal (“What Comes After”,1973), Alfred Harth (“This Earth!”, 1983) und Joe Maneri (“Tales of Rohnlief”, 1998) mit und machte zwei Trio-Alben mit dem Pianisten Paul Bley und dem Saxofonisten Evan Parker (“Time Will Tell”, 1994, und “Sankt Gerold”, 2000). In den 1980er und 1990er Jahren spielte er zudem regelmäßig mit dem London Jazz Composers Orchestra unter der Leitung seines Bassistenkollegen Barry Guy. Außerdem komponierte er Filmmusik für Marcel Camus, Jacques Rivette, Robert Kramer und Frédéric Fisbach, ist auf  den Soundtracks von William FriedkinsCruising” und David CronenbergsNaked Lunch” zu hören und schrieb Ballettmusik für Carolyn Carlson.
2016 rief Barre Phillips Manfred Eicher an, um ihm mitzuteilen, dass er gerne noch ein Soloalbum aufnehmen würde, um “die letzten Seiten eines Tagebuchs zu dokumentieren, das vor fünfzig Jahren begann”. Das Ergebnis war “End To End”, ein großartiges Zeugnis der Kunst des Solobasses. Es folgte “Face à Face”, ein Duo-Album mit György Kurtág Jr. an Synthesizern und digitaler Perkussion, aufgenommen im Jahr 2020. Kurtág ging in den Liner Notes auf die Art der Herausforderung ein und beschrieb Barre liebevoll als “ein Individuum in Bewegung… Ich habe es mit einem Musiker zu tun, dessen Spiel und Phrasierung sich ständig verändert, und zwar auf die unvorhersehbarste Weise.” Nach Barres eigenem Verständnis folgte er einfach dem Klang, der ihn manchmal an überraschende Orte führe. “Meine aktive Rolle besteht darin, mein Bestes zu geben, um auf meinem Instrument das zu spielen, was mir mein Ohr sagt. Ich höre meinen Part fast so, als wäre er von jemand anderem komponiert worden.”
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